Der jährliche Rückblick auf das Jahr 2022 — von Dr. Regula Stämpfli:
1. Januar: The portrait of an artist
Museen geben mir Halt. Ich bin arm geboren und werde arm sterben – aber dank Kunst millionenfach reicher, erfüllter, begeisterter, lebensbejahender von dieser Welt gehen als dies Soziologen bei meiner Geburt prophezeit hätten. Wer in schwierigen Verhältnissen Kind ist, braucht Schönheit viel stärker als jene, die im Überfluss heranwachsen. Auf dem Bauernhof meiner Großmutter warf ich mich, nach getaner Landarbeit, gern ins Gras der Hostet, roch den reifenden Boskoop, die Zwetschge und guckte auf die Schwarze Knorpel-Kirschbäume, die ich eben geerntet hatte. Auf meinem Märtyrer-Weg ins Gymnasium lief ich jeden Morgen über die Kirchenfeldbrücke und schöpfte durch den Blick auf Eiger, Mönch und Jungfrau, Kraft zum Weitermachen. Dieses kindliche Glücksgefühl durch Natur hole ich mir durch Kunst. Beide leben Jahrtausende vor mir und nach mir. Glück ist ein falscher Begriff, es ist Lebensenergie, verbunden mit der Sicherheit: I am not alone. Ich sehe, sie sieht – wir sind nicht allein. Für ein Porträt ließ sich Greta Thunberg mit Erdöl-Imitat übergießen: „The portrait of an activist“ ist erschütternd gut and: it says it all. Diese Aktion ist übrigens tausendmal sprechender als die unsägliche Bild-Kleberei einiger Selfie-Artists, die meinen, Museen, öffentliche Plätze, unser aller Refugium durch Mehlbrei, Farbe oder sonstigem Kot, verletzen zu müssen.
2. Februar: Von Print zur Podcastin
Bekanntlich befinden sich Medien in der Krise – Print ist schon längst tot und wird grad wiederbelebt: Durch Podcasts. Arrogante stöhnen: „Ach, Du auch einen Podcast?“ – dabei gibt es viele Podcasts, die sich zu hören lohnen, u.a. sicherlich #diepodcastin. Jede Woche sind die Rohnerin und laStaempfli im „sprechenden Denken“ präsent (Hannah Arendt). Sie entwickeln dabei große Welttheorien wie die der „sexistischen Enteignung“, des „Nationalfeminismus“, des „Manufluencers“, der „Geschlechterapartheid“ u.v. andere mehr. #diepodcastin gehört in das Netzwerk guter Information. Podcasts sind die neuen Zeitungen – tausendmal spannender, obwohl mir ab und an das Rascheln sowie die Sinnlichkeit des Printmediums fehlen. Dafür kaufe mich mehr Magazine – „ensuite“ bspw., womit ich doch die Werbung gut untergebracht habe, laach.
3. März: Zenita Komad in „Most Wanted Female Art Auction“
“Happiness is for Idiots” – Zenita Komad in der Galerie Petra Seiser, hier an der “Most Wanted Female Art Auction”, deren “Patronesse“, also eigentlich „Matroness“ ich seit der ersten Auktion 2021 bin. Kunst verändert mein Leben: Danielle Pamp, Zanele Muholi, Elisabeth Eberle, Hulda Vilhjálmsdóttir, Louise Deininger, die Galerien Ziegler und „Ruts Gallery“ geben mir Energie, weiterzumachen in diesen Jahren, die uns alle niederprügeln. Am 24. Februar, dem Tag als ich mit Dominik Feusi den Talk im „Fédéral“ hatte, marschierten die Russen in der Ukraine ein. Zwei Wochen später kamen zwei alleinerziehende Mütter mit insgesamt fünf Kindern im Alter von 2–15 bei uns an und wohnten über sechs Monate bei uns und bei einer Freundin. Im Artikel „Meine ukrainische Familie“ habe ich das Erlebnis verarbeitet.
Das Bild von Zenita Komad „Joy Breaks“ hier verkörpert ihr Werk, das gleichzeitig Hoffnung und Kritik ist. Sie regt die Betrachterin zum Nachdenken über die Welt ein, versöhnt mit der Welt und ruft zum Handeln auf: Sinnlichkeit als dringliche Verpflichtung für uns alle Weltbezogenen.
4. April: Von Hulda Zwingli zu Yoko Ono
Hulda Zwingli ist die größte Künstlerin unserer Zeit: Ein feministisches Kollektiv, das Zürich, Winterthur, Aarau, Basel, Luzern bis nach Paris und N.Y. begeistert, den Punkt auf die blutendende sexistische Kunstwunde legt, den Machismo der Kultszene entlarvt und mit ihrem Instagram-Account die westliche Kunstwelt so richtig durchschüttelt – amazing. Dank ihrer Intervention steigen einige Museeumsdirektorinnen und -*ren in den Keller, entdecken herausragenden Werke von unsichtbar gemachten Künstlerinnen. Yoko Ono (*1933) wird nicht unsichtbar gemacht, doch der Hass, den sie ertragen musste, ist sprechend für uns alle Frauen, die sich als Hochbegabte aus dem Korsett der Konventionen schneiden. Viel zu kurz dauerte die Ausstellung im Zürcher Kunsthaus, vom 4.3. bis 29.5.2022: „This Room Moves At The Same Speed As The Clouds“. Yoko Ono war an der Konzeption der Ausstellung persönlich beteiligt und wer dort war: Lifechanging. Das Onlineportal Nau titelte: „Yoko Ono. Kunsthaus Zürich zeigt Werke von Lennon-Geliebte“ – was alles über die Medienszene in der Schweiz aussagt.„Smalldickenergy“ halt, um mit Greta Thunberg zu sprechen. Yoko Ono ließ uns mit der Ausstellung in Zürich die Welt reparieren und verweist gleichzeitig auch auf ihre dunklen Flecken: Ihre „Bed-In“- Performance beinhaltet eine üble Szene zwischen dem Künstlerpaar YokoOno&JohnLennon mit dem Hotel-Staff, einer in Putzfrauenuniform tragende ältere Frau.
5. Mai: Über die Verletzlichkeit des Nebels
Die japanische Künstlerin Fujiko Nakaya (1933) macht Kunst aus Nebel, aus dieser Resonanz von Temperatur und Wasser. Das Haus der Kunst zeigte die erste umfassende Werkschau außerhalb Japans – eine der besten überhaupt. Fujiko Nakaya schafft aus sichtbaren, aber nicht greifbaren Material Skulpturen, Träume, Kunstwerke. Sie entwickelte für die Expo 70 in Osaka – damals war Japan noch hoffnungsfroh und aufsteigende Großmacht – eine Technik für ihre atmosphärischen Nebelskizzen, der Hammer! Sie erzählt Kunstgeschichte anders, sichtbar und unsichtbar: In München ging ich durch zwei Türen zur Terrasse, hin zum Eisbach und erlebte ein Monument, überwältigend und flüchtig zugleich: Fogfall. Sie erinnert daran, dass Klimaschutz, Umweltbewegung, ökologisches Zusammensein weit in die 1970er Jahre zurückreicht: Nebel kann man nicht besitzen: „Fog, like clouds, forms in response to atmospheric editions and its existence is a process of constant interaction with the environement.“ Fuijko Nkaya 1979. Das Bild ist eines der wenigen Ölgemälde der Künstlerin.
6./7. Juni/Juli: Von „Mon Exposition“ zum Hohlied der Demokratie
Jahrelang haben wir nicht mehr gefeiert. Rauschend bis in die frühen Morgenstunden beginnend um 17 Uhr, damit die älteren Herr- und Damschaften auch noch was vom Abend haben, weil, ab Mitternacht beginnt die Orgie. Ich feiere im Flomyca, im neuen Museum für junge Kunst in Floridsdorf; es war das erste Ereignis in diesen tollen Räumen, die mir von Artcare, meinem lieben Freund und Kunsthändler Raimund Deininger, zur Verfügung gestellt wurden. Alles roch noch nach frischem Kalk, die 100 Stühle wurden in Hochzeitskleidung eingerahmt, Blumenbouquets, Wein, Champagner inmitten von 12 Posters, von mir gemacht, inszeniert und exponiert. Meine erste Ausstellung privat, wie es sich für ein Kind, das in die Welt geworfen wird, um nicht dazu zu gehören, nicht wirklich aufgenommen zu sein, obwohl es/sie alles erledigt hat, was es so braucht: Diplome, Aussehen, bürgerliche Existenz, passt. Well: It was Great Gatsby-Like und bleibt unvergesslich: Wien, 25. Juni 2022, ein Get-Together mit den größten Künstlerinnen, Lebensmenschen und Intellektuellen unserer Zeit – ein wahres Fest. „Das Denken erschafft die Welt in jedem Augenblick neu“ (Marcel Proust) – 2022 war für mich in jeder Hinsicht ein Neubeginn.
Im Juli war ein anderes Lebensthema von mir: „Alle Demokratien sind sich ähnlich, nur Unrechtssysteme unterscheiden sich in höchst perfider Art“ – Mit diesem Satz begann ich am 3. Juli das Hohelied auf die Demokratie in Lenzburg. 50 Jahre Einwohnerrat Lenzburg wurde gefeiert. Es war schönstes Wetter, beste Stimmung, Musik, nette Menschen – kurz all das, was man auf Twitter nicht findet. Im Bild sehen Sie die Leckerlis aus Lenzburg mit der Rathausgasse auf Serviettentuch, das von Frauen gestickt ist – ein wunderbares Geschenk des Einwohnerrates in Lenzburg.
8. August: Der Trost von Pipilotti Rist
Im Sommer ist mir was Schreckliches widerfahren, im Anschluss habe ich wieder zu meditieren begonnen – der Heilungsprozess läuft. In den Tagen kurz nach dem schrecklichen Ereignis – habe ich schon erwähnt, dass mich Museen trösten? – fand ich mich in der Sammlung Merzbacher im Zürcher Kunsthaus bei Pipilotti Rist wieder. Ihr Pixelwald Turicum von 2021 ist ein Sinneserlebnis, ein Augenschmaus und essentieller Trost. Seitdem geh ich, wenn ich in Zürich bin, wieder und wieder in die Lichtketten, setze mich über eine Stunde in die Ecke und freue mich, wie diese Künstlerin es immer wieder schafft, Kunst als Liebe zu transformieren ohne Kitsch. Sie ist umwerfend, ihr Werk ist berührend schön und soll noch viele Generationen von Menschen erfreuen, zum Nachdenken bringen und helfen, die Welt einen schöneren Ort zu machen.
9. September: Kultur ist eine isländische Botschaft
Die isländische Botschaft unter der begnadeten Diplomatin Kristín A. Árnadóttir eröffnete im Beisein der isländischen Aussenministerin Þórdís Kolbrún Reykfjörð Gylfadóttir in einem dreitägigen Happening – 16–18 September – neu in Wien. Es waren Dutzende von Künstlerinnen und Künstler eingeladen, Referate, Empfänge und Galeriebesuche wie bei Ruts Gallery in Wien, sie alle erfüllten die zauberhafte Kulturstadt Wien mit nordischer Art – umwerfend. Ich hatte die große Ehre mit Kristín A. Árnadóttir durch die drei Tage Kunst, Kultur, Diplomatie und Politik zu führen. Kristín A. Árnadóttir und laStaempfli trafen sich vor Jahrzehnten an einer internationalen Frauenkonferenz und Wien brachte sie wieder zusammen. Wir hoffen den isländischen Kulturexport als regen wirtschaftlichen Austausch nicht nur in Wien zu etablieren, sondern auch in die internationale Stadt Genf zu exportieren: Die Position der Vermittlerin von Kunst und Politik ist mein Traumjob, den ich 2023 noch gerne mehrfach ausüben würde. Das Bild ist von der genialen Künstlerin Thelma Herzl: She is overwhelmingly great – wie alle isländischen Künstlerinnen und Künstler, mit denen ich mich an diesem Wochenende befreunden durfte: Von einigen bin ich eifrige Sammlerin ihrer Werke.
10. Oktober: Eine Frau bleibt eine Frau
Der kunsthistorische Kanon bleibt ein Ärgernis und zumeist frauenfrei, trotz der Neubelebung weiblicher Kunst und „Neuentdeckungen“ von Künstlerinnen, die keine Neuigkeiten, sondern patriarchal in Jahrhunderten voller Unsichtbarkeit begraben werden. In „ensuite“ und der #diepodcastin mit der zauberhaften Autorin/Intellektuellen Isabel Rohner, darf ich darüber viel berichten. Würden wir die Essays dieses Jahr inklusive Podcasts aneinanderhängen, wir hätten das beste Lexikon zur Geschichte der Kunst, Politik und Medien für das Jahr 2022. Hier mein Lieblingsexponat der völlig vergessen gegangenen Künstlerin Doris Stauffer (1934–2017) “Großmutter“. Stauffer erzählt darin Welt- und Frauengeschichte: Ein Hinweis darauf, dass Herstory zur Artstory werden muss.
11. November: Vom Studienkollegen zum genialen Filmemacher
Seit über dreissig Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehen: Constantin Wulff – ja, der, mit zwei Doppelffs. Er erinnert sich sicher nicht an mich, womit er zwar der einzige Mann in meinem Leben wäre, der die Lotusfrucht verspeist hat, aber egal. Lebte Pascal Danz noch, würde er mir vehement widersprechen, ach wie vermisse ich ihn, diesen begnadeten Künstler und Herzensfreund! Constantin Wulff und ich machten fettes Aktionstheater 1983 an der Universität Bern und waren enorm erfolgreich. Per Zufall stieß ich im November 2022 auf dieses Flugblatt, angeheftet im Vierten Bezirk an einen Baustellenzaun. Der Film „Für die Vielen“ über die AK ist etwas vom Besten, das ich je gesehen: Constantin Wulff erzählt allein mit Bildern, ohne Musik die eindrückliche Geschichte der Arbeiterkammer Wien, die mitten in der Pandemie mit geplatzten Jubiläumsträumen allen Menschen weiterhelfen konnte. „Für die Vielen“ sollte jeden Gewerkschafts‑, Dokumentations- und Filmepreis kriegen. Noch nie vermochte jemand so gut, sich selbst als Filmemacher völlig aus rauszunehmen und seine Protagonistinnen und Protagonisten reden zu lassen. Brillant, erschütternd gut, phänomenal und ich gratuliere hier dem fernen Unikollegen für sein umwerfendes Können und empfehle allen: Besorgt Euch die DVD und den Gewerkschaften: Ladet den Filmemacher ein. Er kann Euch viel lehren darüber, wie Menschen, deren Arbeit, Löhne und Wohnverhältnisse uns allen erzählt werden sollten.
12. Dezember: The Milk of Dreams
Zweimal war ich mehrere Tage an der besten aller Biennalen in Venezia. „The Milk of Dreams“ ist der Titel eines Buches der Künstlerin Leonora Carrington (1917–2011). Die Kuratorin Cecilia Alemani nahm die Geschichte für diese Biennale auf. Die Surrealistin Carrington – sie ist übrigens bei der Galerie Ziegler zu bestaunen und zu kaufen, die Galerie, die ich für ensuite im Dezember porträrtiert habe, und zwar in der zauberhaften Person von Renée Ziegler, der ältesten Galeristin der Welt – also die Surrealistin Carrington erzählte ihre Welt als Ort, an dem sich das Leben durch das Prisma der Imagination ständig neu entwickeln kann. Ich wurde durch diese Biennale jemand anders, ich verbinde mich seitdem mit „otherworldly creatures“ und wäre nicht die Steuererklärung, die Medienkrise, die meinen Beruf massiv verändert hat sowie die generelle Knappheit an Liebe, Freude, Überschwang, Herzlichkeit, die vor der Pandemie so einfach zu finden war und seitdem eher fehlen, also wäre all dies nicht, ich könnte mich zur Artist einfach metamorphieren. 2022 beginne ich die Lebewesen in die Welt und Wirklichkeit zurück zu führen, schreibe an mehren Essays, u.a. mit dem Titel „Wir codieren uns zu Tode“ und habe Angst, dass die Mampflers dieser Welt oder die VonBergs oder die Doofmanns mich sofort wieder bestehlen, wie so häufig: Hier ein Selfiegruss an all die Typen: In hundert Jahren seid Ihr und ich tot, doch vergessen bleibt nur Ihr!
Ich bin befreit in diesem Dezember 2022, aufgehoben in „The Milk of Dreams“, dieser Energie, die uns alle weiterträgt: Träumt viel und kommt mit auf diesen Reisen, die unser aller Leben wieder und wieder verändern. Ich ende hiermit voller Dankbarkeit und freue mich auf ein weiteres Jahr mit Ihnen/Euch.