Von Sonja Wenger — Wie funktioniert Macht? Wie wird sie wahrgenommen? Von wem genau, und vor allem, zu welchen Zwecken werden auf höchster politischer Ebene jene Entscheidungen getroffen, die eine Regierung definieren, und die das Leid oder Wohlergehen einer ganzen Nation beeinflussen können? Von solchen Fragen hat sich der französische Regisseur Pierre Schoeller inspirieren lassen, als er das Drehbuch zu seinem Kabinettsstück «Le Ministre – L’Exercice de l’état» schrieb, das sich schlicht brillant mit der «Unsichtbarkeit der Machtmechanismen» auseinander setzt. Sieben Jahre arbeitete Schoeller an seinem Projekt, dessen Dichte und Komplexität streckenweise überwältigt.
Als Protagonist dient Schoeller der fiktive französische Transportminister Bertrand Saint-Jean (Olivier Gourmet), der von einem hocheffizientem Beraterteam unter der Leitung seines Privatsekretärs Gilles (Michel Blanc) umgeben ist. Saint-Jean gilt als aufsteigender Stern am Polithimmel, wird von seinem Team jedoch als noch unerfahren wahrgenommen. Der Film beginnt mit einer irritierenden, erotischen, durchaus amüsanten Traumsequenz, die Ton und Rhythmus der Geschichte definiert und das Publikum gleich zu Beginn jeder Illusion beraubt, es sich im Kino bequem machen zu können.
Aus seinem Traum wird Saint-Jean von Gilles mit der Nachricht geweckt, dass kurz zuvor ein Reisebus verunglückt und dabei mehrere Jugendliche ums Leben gekommen seien. Noch in derselben Nacht reist er an den Unglücksort, um vor den Kameras wirkungsvoll seiner Betroffenheit Ausdruck zu verleihen. Nur wenige Stunden später ist er zurück in Paris und steht für erste Fernsehinterviews zur Verfügung. Bei diesen geht es allerdings weniger um den Unfall als um das Gerücht einer möglichen Privatisierung der Bahnhöfe. Und obwohl Saint-Jean diese Reform persönlich ablehnt, wird sie für ihn zunehmend das definierende Moment, quasi seine «politische Geburt», wie es ein Berater nennt.
Schnell wird dem Publikum von «Le Ministre» bewusst, hier einem Profi zuzusehen, der über viele Gesichter und über jene Fähigkeiten verfügt, im Haifischbecken der Politik nicht gefressen zu werden: Rücksichtslosigkeit, Selbstbewusstsein bis hin zur Selbstüberschätzung, sowie einen geübten Wendehals. Bei Saint-Jean ist keine Handlung wirklich selbstlos, kommt keine Aussage ohne Hintergedanken daher, scheint kein Ideal so wichtig, dass man es nicht über Bord werfen könnte, wenn es der Opportunismus verlangt – und selbst wenn der Minister dies hin und wieder bedauert, denkt er doch keine Sekunde daran, sein Verhalten zu verändern.
Dabei ist Saint-Jean kein Einzelfall. «Le Ministre» beleuchtet vielmehr ganz allgemein die Welt hinter den Kulissen der politische Macht, topaktuell, schonungslos und unabhängig von Partei und Ideologie. In dieser Welt zählt einzig der Machterhalt, und dafür werden ohne zu zögern Werte geopfert und Versprechungen gebrochen.
Nun ist dieses Verhalten ja nichts Neues, und gehört nicht nur am Stammtisch zu den Dauerthemen. Doch Schoellers Film verwehrt sich gekonnt den üblichen Politikklischees, ihm gelingt eine faszinierende, clevere Balance zwischen intimem Porträt und Kritik, zwischen Unterhaltung und Information. Immer wieder überrascht der Regisseur in seiner Geschichte mit unerwarteten Wendungen, gibt oberflächlichen Momenten grosse Tiefe und durchbricht ruhige Szenen mit harter Action. Zudem hat er «Le Ministre» mit einer gewaltigen Portion bissiger Rhetorik und Ironie ausgestattet, die das Publikum von der Frage befreit, ob es denn überhaupt so genau wissen will, wie die eigene politische Kaste funktioniert.
Diese Frage ist durchaus berechtigt. Angesichts der täglichen Realität politischer Heuchelei, Inkompetenz und Inkonsequenz wirkt «Le Ministre» beinahe wie ein Versuch der Rehabilitation. Quasi ein Richtigstellen der Fakten mit einer versteckten Botschaft: Politiker sind auch nur Menschen; sie sind nicht zwingend korrupt, nur meistens korrumpiert. Korrumpiert von den Erwartungen einer medial dominierten Welt, die allzu oft belogen werden will. Korrumpiert von den notwendigen Kuhhändeln, ohne die das System gar nicht mehr zu funktioniert scheint. Und vor allem korrumpiert durch die Zerrissenheit zwischen dem ursprünglichen Bedürfnis, den Menschen dienen zu wollen, und der Unmöglichkeit, damit politisch überleben zu können.
Schoeller und seinem hervorragenden Schauspielerensemble ist es in «Le Ministre» gelungen, alle diese Aspekte mit dem denkbar höchsten Mass an Authentizität und psychologischer Finesse aufzuzeigen. Dabei nimmt die Geschichte zu keinem Zeitpunkt Partei für eine Seite – ausser vielleicht für jene der Menschlichkeit – und wird gerade dadurch zu einem Aufruf für mehr Anständigkeit. Eine Sisyphusarbeit, zweifellos, doch notwendig. Schliesslich definiert Saint-Jean nicht ohne Grund die Politik als «eine Wunde, die niemals heilt».
«Le Ministre – L’Exercice de l’état», Frankreich 2011. Regie: Pierre Schoeller. Länge: 112 Minuten.
Foto: zVg.
ensuite, August 2012