Von Fabienne Naegeli - Von Fabienne Naegeli – «Fliegenfängerinnen/Piège à mouches» – Ein deutsch-französisches Stück über das menschliche Leben und seinen Preis der Cie. Frakt’
Was, sie sind schon 80 Jahre alt?! Dann liegen sie der Gesellschaft aber auch schon ein Weilchen auf der Tasche, meine Liebe. Haben sie sich nicht schon mal überlegt, diesem lästigen Zustand Abhilfe zu schaffen? // Wie schön, ihre Tochter erwartet ein Kind! Ja, aber ihre Ärztin hat festgestellt, dass es wahrscheinlich behindert sein wird. Das tut mir schrecklich leid – warum treibt sie es dann eigentlich nicht ab? // Und sie arbeiten nach ihrer Krankheit endlich wieder? Nicht, sie sind jetzt IV-Bezügerin?! So nützen sie uns ja rein gar nichts mehr – ausser dass sie die Verschuldung vergrössern und uns unsere hart erarbeitete Suppe aus dem Teller fressen.
In einem ärmlichen Landstrich Ostungarns, im kleinen Dorf Nagyrév, entdeckte nach dem Ersten Weltkrieg eine Hebamme, wie man aus Fliegenpapier Arsen gewinnen konnte. Es war die Zeit, als die Männer des Dorfes aus dem Krieg heimkehrten, kriegstraumatisiert und körperlich gezeichnet. Ihre Kriegsverletzungen verunmöglichten ihnen die harte Arbeit auf dem Feld. Die Frauen, die bereits an der Grenze der Verelendung wirtschafteten, hatten nun noch einen zusätzlichen Esser im Haus, zu dem sie auch keine emotionale Bindung mehr verspürten. Die Hebamme, die in alle Familien Einblick hatte, bot den Frauen das Arsen als Lösung für ihre Probleme an. Mit Hilfe dieses Giftes ermordeten die Frauen in der Folge ihre Ehemänner, die behinderten und unerwünschten Kinder und die «nutzlosen» Alten. Sie mischten ihnen das Mittel in kleinen Portionen täglich ins Essen und beseitigten so während etwa 20 Jahren einen Drittel der Dorfbevölkerung, ungefähr 150 Menschen, ohne dass jemand eine Vergiftung vermutete. Ende der 20er-Jahre flog die Mordserie durch den kriminalistischen Spürsinn eines Polizeibeamten auf, der auf groben Verdacht hin zwei Frauen verhaftete, sich im Schrank ihrer Zelle versteckte und die sonst so schweigsamen Frauen bei ihren gegenseitigen Vorhaltungen über die begangenen Taten belauschte.
Die Geschichte der Nagyréver Frauen nimmt die Cie. Frakt’ zum Anlass, sich über den Wert des Menschen in unserer heutigen Gesellschaft Gedanken zu machen. In welchen Formen ist die Lebenseinstellung dieser von den Umständen getriebenen Frauen heute in der Wirtschaft noch präsent? Wohin führt ein solches Nützlichkeitspostulat in unserer Fortschrittsgesellschaft? Wie lange dauert es, bis aufgrund der Pränataldiagnostik nur noch gesunde Kinder auf die Welt kommen dürfen und nicht mehr jedes Leben lebenswert ist? Wann werden wir uns rechtfertigen müssen, wenn wir im Alter und bei schwerer Krankheit anstatt Sterbehilfe lebensverlängernde Massnahmen in Anspruch nehmen? Ist der Wert eines Menschen wie eine mathematische Formel berechenbar? Wo übt unsere Gesellschaft solchen Druck aus, dass wir unser eigenes Leben werten und andere bewerten? Sollte der Wert eines Menschen nicht absolut und unantastbar sein? Bleibt die menschliche Würde auch in Krisenzeiten eine ethische Grundvoraussetzung?
All diese Fragen sucht die Cie. Frakt’ in ihrem neuen Projekt «Fliegenfängerinnen/Piège à mouches» auszuloten. Diese Arbeit führte die Mitglieder der Cie. Frakt’ auf eine zweiwöchige Recherchereise in die Region des Giftmischerinnen-Dorfes Nagyrév. Sie konnten dort Bild- und Tonmaterial sammeln, mit Vertretern der Dorfgemeinschaft sprechen und den ungarischen Musiker Zoltán Csernák für ihr Projekt gewinnen.
Die Cie. Frakt’ wurde im Herbst 2005 in Biel gegründet. Wichtig sind dem Theaterkollektiv der Umgang mit schweizerischen Besonderheiten, insbesondere der Mehrsprachigkeit, und die Verknüpfung historischer Vorfälle mit aktuellen Ereignissen und Phänomenen. Mit ihrer ersten Produktion «Zum Mond!/Vers la Lune!», in welcher sie sich mit der Faszination auseinandersetzte, die der Mond auf die Menschen ausübt, gewann die Cie. Frakt’ den 3. Preis beim PREMIO – Förderpreis für junges Theater. In ihrem nun zweiten gemeinsamen Projekt «Fliegenfängerinnen/Piège à mouches» begibt sich die Cie. Frakt‘ kriminalistisch auf die Suche nach dem Wert des menschlichen Lebens.
Foto: zVg.
ensuite, Oktober 2009