Von Gabriela Wild — Alle Jahre wieder, im Herbst, ziehe ich besonders gerne das Büchlein «Mitteilungen an Max» von Hildesheimer aus dem Regal. Nicht unbedingt wegen des ersten Satzes. Die komplizierte Verschachtelung, die dem Leser gleich zu Beginn entgegen springt, wird manchen abschrecken: «Wieder ist, wie Du, lieber Max, wahrscheinlich bereits festgestellt hast, ein Jahr vergangen, und ich weiss nicht, ob es Dir so geht wie mir: allmählich wird mir dieser ewigwährende Zyklus ein wenig leid, wozu verschiedene Faktoren, deren Urheber ich in diesem Zusammenhang, um mich keinen Unannehmlichkeiten, deren Folgen, die in Kauf zu nehmen ich, der ich gern Frieden halte, gezwungen wäre, nicht absehbar wären, auszusetzen, nicht nennen möchte, beitragen.» Die Schwierigkeit, diesen Satz auswendig zu lernen, dürfte reichen, dass er nicht in den Kanon der erhaltenswerten Buchanfänge aufgenommen wird (siehe ensuite Nr. 90). Dafür erinnern die Mitteilungen an das Auswendiglernen in den stillen Schulstunden im Herbst. In den Köpfen der Schüler wurden noch einmal die Rilke-Strophen repetiert, kurz bevor der Lehrer mit sanfter Handbewegung zum Rezitieren aufforderte.
«Der Sommer war nicht eben gross, aber gross genug, ich beklage mich nicht. Ein Sommer sollte ja auch nicht zu gross sein, aber ich weiss: manchem kann er nicht gross genug sein. Der Apfel fiel nicht weit vom Stamm, das hat die Ernte um Wesentliches erleichtert. Aber auf den Fluren hat jemand die Winde losgelassen, was ich als Rücksichtslosigkeit, wenn nicht gar als Beleidigung empfunden habe; jedenfalls zeugt es von schlechten Manieren – von Kinderstube will ich nicht reden, es ist zu schmerzlich. Jemand hat auch den letzten Früchten befohlen, voll zu sein, und ihnen noch zwei südlichere Tage gegeben, die zwar unerträglich waren, dafür ist der Obstkeller jetzt gefüllt. Aber irgendeiner – ich weiss nicht, ob es derselbe war – har auch die letzte Süsse in den schweren Wein gejagt. Und nun muss ich mich, so wohl als übel, auf einen schweren süssen Jahrgang vorbereiten – aber sei’s drum: die Jahrgänge werden ohnehin nicht leichter, dafür werden die Zeitläufe auch immer weniger süss. Ist Dir das auch schon aufgefallen? Kannst Du Dich etwa auch nur an einen einzigen süssen Zeitlauf erinnern? – Immerhin habe ich ein Haus gebaut. Es ist noch nicht trocken. Noch stehen die Mauern einigermassen sprachlos und kalt, während vor den dreifach verglasten Fenstern der Schnee auf Einsilbiges wie Au und Flur, Hain und Pfad, Busch und Strauch, Bach und Teich etc. sowie auf Zweisilbiges wie etwa Buschwerk und Tannich, Strauchwerk und Buchicht, Pfütze, Tümpel und Weiher herabrieselt. Es handelt sich, wie Du dieser Aufzählung entnommen haben dürftest, um Umwelt, die ich übrigens nach Gebühr schütze, sofern sie mich in Frieden lässt, was leider nicht immer der Fall ist.»
Ich hab sie gemocht, die Rilke-Stunden im Herbst.
Wolfgang Hildesheimer, Mitteilungen an Max.
Foto: zVg.
ensuite, Oktober 2010