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LESEZEIT Nr. 95

Von Gabriela Wild — Hin und wieder wird Autoren und Autorin­nen vorge­wor­fen, sie seien zu wenig poli­tisch, sie wür­den sich nicht an gesellschaftlich rel­e­van­ten Diskus­sio­nen beteili­gen, wenig zur öffentlichen Mei­n­ungs­bil­dung beitra­gen. David Gross­man, israelis­ch­er Schrift­steller, der im Okto­ber den Frieden­spreis des Deutschen Buch­han­dels erhal­ten hat, gibt dem Schreiben an sich eine poli­tisch rel­e­vante Bedeu­tung.

In «Die Kraft zur Kor­rek­tur» erk­lärt Gross­man das Prinzip des Schreibens zu einem ersten Schritt der Kon­flik­tlö­sung. Der Schreibende ist bei der Entwick­lung sein­er Fig­uren gezwun­gen, die Bar­riere zwis­chen Men­schen zu erken­nen, die Gren­ze zwis­chen sich und dem anderen zu durschauen und zu über­winden. «Auch bei den tief­sten, treusten, dauer­haftesten Fre­und­schaften wer­den wir hin und wieder eine Schranke spüren, eine unbes­timmte Scheu davor, alles zu wis­sen, einen Schutzwall vor jen­er ver­bor­ge­nen Düsterkeit in unserem besten Fre­und.» Die Angst vor der unge­ord­neten, unver­ar­beit­eten Glut des Anderen ist gross. Instink­tiv sind wir ständig bemüht, nicht all zu viele Aspek­te ein­er Per­son zu erfassen, nicht in zu bre­ite Teile ihrer vielschichti­gen Iden­titäten zu blick­en. Das Schreiben – ins­beson­dere das Schreiben von Lit­er­atur – so Gross­man, ist ein Protest, eine Rebel­lion gegen diese Angst, gegen das Ver­bar­rikadieren in sich selb­st, gegen die schein-fre­undliche Trennlin­ie zwis­chen mir und den anderen. Der Schrift­steller wid­met sich dem Prinzip des Anderen mit der grösst möglichen Empathie. Mit all seinen Sin­nen, mit seinem Bewusst­sein und Unbe­wusst­sein spürt er den Gedanken und Empfind­un­gen sein­er Fig­uren nach. Er gibt sich ihrem Innern schut­z­los hin – auch dem schwieri­gen, zwiespälti­gen und wenig Ver­trauen erweck­enden. Hier gewin­nt Gross­mans Ver­gle­ich an poli­tis­ch­er Rel­e­vanz. Wenn wir uns in den anderen hinein­ver­set­zen – auch wenn dieser andere ein Feind ist –, wer­den wir ihm nie wieder völ­lig gle­ichgültig gegenübertreten. Das Prinzip des Anderen bedeutet, sein Recht auf Exis­tenz (Recht auf seine Geschichte, seine Schmerzen, seine Hoff­nun­gen) anzuerken­nen. Für Gross­man ist es fra­g­los die Pflicht jedes Men­schen, der einen Feind hat, über seinen Feind nachzu­denken, selb­st wenn die Irrtümer des Geg­n­ers auf der Hand liegen. Über seinen Feind nachzu­denken bedeutet nicht, ihn zu recht­fer­ti­gen.

Das Schreiben bein­hal­tet ein weit­eres Poten­tial, das für eine erfol­gre­iche Kon­flik­tlö­sung jeglich­er Art genutzt wer­den kann. Der Schreibende ist ver­meintlichen Tat­sachen nicht macht­los aus­geliefert. Er hat die Möglichkeit aus der Ver­flachung der klis­chierten Stan­dard­phrasen auszubrechen. Er kann dif­feren­zieren und präzisieren, das Sprach­netz immer enger knüpfen, damit er nicht samt seinem Feind in die Falle von Vorurteilen, Uräng­sten und Ver­all­ge­meinerun­gen tritt.

Die Welt des Schreiben­den ist bewegt, flex­i­bel und voller Möglichkeit­en. Darin liegt die Kraft der Kor­rek­tur: die Fähigkeit, Ein­stel­lun­gen, geset­zte Urteile zu über­prüfen und zu rev­i­dieren. Der Schreibende kann die Vielzahl an Möglichkeit­en, die jede men­schliche Lage in sich birgt fühlen. Mitunter set­zt der Akt des Schreibens einen Heilung­sprozess in Gang: «Ich schreibe und merke dabei, dass das präzise Benutzen der Worte zur Medi­zin wer­den kann. (…) Ich schreibe und spüre, wie die Sen­si­bil­ität und Intim­ität, die zwis­chen mir und der Sprache auf ihren ver­schiede­nen Ebe­nen herrscht, mit ihrer Erotik, mit ihrem Humor und ihrer Seele, mich wieder zu dem Men­schen machen, der ich ein­mal war, ehe mein Selb­st von dem Kon­flikt vere­in­nahmt wurde (…)»

David Gross­man, Die Kraft zur Kor­rek­tur, Über Poli­tik und Lit­er­atur, Hanser.

Foto: zVg.
ensuite, Novem­ber 2010

Artikel online veröffentlicht: 28. November 2018