Von Gabriela Wild — Hin und wieder wird Autoren und Autorinnen vorgeworfen, sie seien zu wenig politisch, sie würden sich nicht an gesellschaftlich relevanten Diskussionen beteiligen, wenig zur öffentlichen Meinungsbildung beitragen. David Grossman, israelischer Schriftsteller, der im Oktober den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat, gibt dem Schreiben an sich eine politisch relevante Bedeutung.
In «Die Kraft zur Korrektur» erklärt Grossman das Prinzip des Schreibens zu einem ersten Schritt der Konfliktlösung. Der Schreibende ist bei der Entwicklung seiner Figuren gezwungen, die Barriere zwischen Menschen zu erkennen, die Grenze zwischen sich und dem anderen zu durschauen und zu überwinden. «Auch bei den tiefsten, treusten, dauerhaftesten Freundschaften werden wir hin und wieder eine Schranke spüren, eine unbestimmte Scheu davor, alles zu wissen, einen Schutzwall vor jener verborgenen Düsterkeit in unserem besten Freund.» Die Angst vor der ungeordneten, unverarbeiteten Glut des Anderen ist gross. Instinktiv sind wir ständig bemüht, nicht all zu viele Aspekte einer Person zu erfassen, nicht in zu breite Teile ihrer vielschichtigen Identitäten zu blicken. Das Schreiben – insbesondere das Schreiben von Literatur – so Grossman, ist ein Protest, eine Rebellion gegen diese Angst, gegen das Verbarrikadieren in sich selbst, gegen die schein-freundliche Trennlinie zwischen mir und den anderen. Der Schriftsteller widmet sich dem Prinzip des Anderen mit der grösst möglichen Empathie. Mit all seinen Sinnen, mit seinem Bewusstsein und Unbewusstsein spürt er den Gedanken und Empfindungen seiner Figuren nach. Er gibt sich ihrem Innern schutzlos hin – auch dem schwierigen, zwiespältigen und wenig Vertrauen erweckenden. Hier gewinnt Grossmans Vergleich an politischer Relevanz. Wenn wir uns in den anderen hineinversetzen – auch wenn dieser andere ein Feind ist –, werden wir ihm nie wieder völlig gleichgültig gegenübertreten. Das Prinzip des Anderen bedeutet, sein Recht auf Existenz (Recht auf seine Geschichte, seine Schmerzen, seine Hoffnungen) anzuerkennen. Für Grossman ist es fraglos die Pflicht jedes Menschen, der einen Feind hat, über seinen Feind nachzudenken, selbst wenn die Irrtümer des Gegners auf der Hand liegen. Über seinen Feind nachzudenken bedeutet nicht, ihn zu rechtfertigen.
Das Schreiben beinhaltet ein weiteres Potential, das für eine erfolgreiche Konfliktlösung jeglicher Art genutzt werden kann. Der Schreibende ist vermeintlichen Tatsachen nicht machtlos ausgeliefert. Er hat die Möglichkeit aus der Verflachung der klischierten Standardphrasen auszubrechen. Er kann differenzieren und präzisieren, das Sprachnetz immer enger knüpfen, damit er nicht samt seinem Feind in die Falle von Vorurteilen, Urängsten und Verallgemeinerungen tritt.
Die Welt des Schreibenden ist bewegt, flexibel und voller Möglichkeiten. Darin liegt die Kraft der Korrektur: die Fähigkeit, Einstellungen, gesetzte Urteile zu überprüfen und zu revidieren. Der Schreibende kann die Vielzahl an Möglichkeiten, die jede menschliche Lage in sich birgt fühlen. Mitunter setzt der Akt des Schreibens einen Heilungsprozess in Gang: «Ich schreibe und merke dabei, dass das präzise Benutzen der Worte zur Medizin werden kann. (…) Ich schreibe und spüre, wie die Sensibilität und Intimität, die zwischen mir und der Sprache auf ihren verschiedenen Ebenen herrscht, mit ihrer Erotik, mit ihrem Humor und ihrer Seele, mich wieder zu dem Menschen machen, der ich einmal war, ehe mein Selbst von dem Konflikt vereinnahmt wurde (…)»
David Grossman, Die Kraft zur Korrektur, Über Politik und Literatur, Hanser.
Foto: zVg.
ensuite, November 2010