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Liebe kunst, erzähl doch mal

Von Jarom Radzik — Erzäh­lun­gen. Sie stiften Sinn, Erin­nerung, Iden­tität, Zusam­men­halt und sog­ar Wirk­lichkeit. Der Men­sch lebt in Erzäh­lun­gen und durch sie. In ein­er Welt voller Erzählsplit­ter ist Kun­st zur Her­rin der Ver­satzstücke gewor­den. Will Kun­st dem Men­schen ein wahres Gegenüber sein, muss sie wieder erzählen ler­nen.

Schon vor ger­aumer Zeit geis­terte durch die Medi­en die Geschichte eines von Kun­st­ex­perten hochgelobten Bildes. In aller Munde war es aber nicht deswe­gen, son­dern wegen seines Urhe­bers. Der Erschaf­fer des Bildes war näm­lich kein Men­sch, son­dern ein Affe. Warum haben die Kun­st­ex­perten das Bild des Affen den­noch ein­er sachkri­tis­chen Beurteilung unter­zo­gen? Weil das Bild den Experten zuge­spielt wor­den war, ohne dass sie von der ani­malis­chen Urhe­ber­schaft des Werkes gewusst hät­ten. Dank der Aus­druck­skraft und Orig­i­nal­ität des Bildes, der Anerken­nung durch die Experten, wurde also eine skur­rile Schlagzeile geboren. Egal ob Buben­stre­ich, Blödsinn oder Böswilligkeit, die Geschichte zeigt eine Eige­nart, die in der Kun­st öfters anzutr­e­f­fen ist: Vieles unter dem Titel Kun­st lässt sich heute nur noch mit der Nen­nung der Per­son des Kün­stlers lesen. Anhand des Motivs ist dies nicht mehr möglich.

Das mit der Einord­nungss­chwierigkeit von Kun­st war nicht immer so. Kunst­werke, die noch vor weni­gen Jahrhun­derten ent­standen sind, kön­nen leicht anhand von Motiv und Machart einem bes­timmten Genre und ein­er bes­timmten Schule zuge­ord­net wer­den. So gibt es zum Beispiel das Genre der Ikono­grafie, oder jenes der Porträt­malerei. Und immer waren diese Werke einge­bet­tet in den Kon­text gesellschaftlich­er Insti­tu­tio­nen, etwa den­jeni­gen der Kirche, oder von Herrscher­dy­nas­tien. Nicht mehr so heute. Kunst­werke, beziehungsweise ihre Motive, entste­hen oft ohne grösseren gesellschaftlichen Kon­text. Die The­men­wahl erscheint zufäl­lig, oder als Teil eines biografisch gefärbten Pro­gramms. Und was Bekan­ntheit erlangt, ist meist eben­so beliebig, wie seine Ent­deck­ung durch Kura­toren und Galeris­ten.

Erzeuger geht vor «Jed­er ist ein Kün­stler», der Schlachtruf, der ger­ade im Zeital­ter der Selb­st­be­weihräucherung auf begeis­terten Wider­hall stösst, lässt grüssen. Das Kunst­werk, wenn diesem Ding denn über­haupt noch Bedeu­tung zugemessen wer­den kann, ist in die zweite Rei­he hin­ter die Per­son des Kun­stschaf­fend­en gerutscht. Kunst­werke sind also vor allem Aus­drucksmit­tel der Per­son des Kün­stlers gewor­den. Deshalb kann ein Kunst­werk der Gegen­wart nur dann gele­sen wer­den, wenn man auch die Geschichte des Kün­stlers ken­nt. Es geht nicht mehr um das Werk an sich, son­dern um die Per­son des Kün­stlers dahin­ter, welche dem Werk Sinn und Wert ver­lei­ht.

Das ent­behrt nicht der Ironie: Feiert die Kun­st nicht unabläs­sig die Befreiung aus allen gesellschaftlichen Nor­men? Anstatt sich vom Men­schen zu etablieren, ist sie nur noch mehr in seine Abhängigkeit ger­at­en. Und so braucht Kun­st als Aus­fluss ein­er Per­sön­lichkeit den Kun­stschaf­fend­en, damit sie über­haupt noch wahrgenom­men wird. Darum erstaunt es nicht, dass Klatschrubriken mit Geschicht­en von Kun­stschaf­fend­en wesentlich aus­sagekräftiger gewor­den sind als irgendwelche Rezen­sio­nen. Wahrschein­lich war es deshalb auch nicht möglich, dass der Schim­panse, obwohl er von Kun­st­ex­perten sein Kön­nen attestiert bekom­men hat, zum inter­na­tionalen Star wurde. Affen als Stars sind ein­fach zu wenig sexy. Absurd? Nein, nur kon­se­quent.

Meine Aus­führun­gen mögen plaka­tiv und provozierend sein. Eigentlich zie­len sie aber vor allem auf das offene Geheim­nis, dass Kun­st heute nicht mehr über Motive definiert wird. Kunst­werke der Gegen­wart sind in erster Lin­ie Ideen von Men­schen, die sich Kün­stler nen­nen. Kein durch­dacht­es Gedankenge­bilde und schon gar keine The­o­rie oder Geschichte, son­dern eben nur eine Idee, die darauf wartet, von einem Galeris­ten oder Kura­toren ent­deckt zu wer­den.

Mein Ein­druck: Obwohl nicht mehr an Ide­olo­gien, Insti­tu­tio­nen oder Kon­ven­tio­nen gebun­den, ist sie erschreck­end uni­form gewor­den, die Kun­st der Gegen­wart. Ich ver­mute, das liegt daran, dass die Kun­st in der unge­sagten Maxime des Mark­tes an der kürz­eren Leine gehal­ten wird, als dies in allen vorherge­hen­den Ide­olo­gien, Insti­tu­tio­nen oder Kon­ven­tio­nen je möglich gewe­sen wäre. Denn Kun­st ist heute ein geld­w­ertes Ange­bot, dass eine Nach­frage sucht. Darum muss der Kun­stschaf­fende dem Markt entsprechen, um davon leben zu kön­nen.

Abkehr von der Erzäh­lung Lei­der gehört dazu auch die Abkehr von der Erzäh­lung, denn die Welt ist entza­ubert. Und mit ihr die grossen Erzäh­lun­gen der Men­schheit. Man kann sog­ar sagen, die Erzäh­lun­gen von damals sind zer­split­tert oder, um ein zeit­gemäss­es Wort zu ver­wen­den, in Episo­den zer­brochen. Ein Beweis dafür ist der lange Siegeszug der Fernsehse­rien. Und das, obwohl Erzäh­lun­gen seit dem ver­gan­genen Jahrhun­dert nicht mehr nur die Welt erk­lären, son­dern vor allem auch die Erziehung zur Mündigkeit über­nom­men haben.
Und auch die Stars der Gegen­wart­skun­st erzählen nicht mehr die Heils­geschichte eines Chris­tus, oder die Helden­tat­en reich­er Stadt­fürsten. Kunst­werke der Gegen­wart behan­deln, wenn über­haupt, nur noch Metath­e­men, abstrak­te Begrif­flichkeit­en, welche Kün­stler durch ihre eigene Per­son aufzu­laden ver­suchen. Sie haben also die Dynamik des Erzäh­lens mit der Sta­tik des blossen Seins einge­tauscht. Hätte der Schim­panse das Bild im Kon­text ver­gan­gener Jahrhun­derte gemalt, wäre sein Bild wohl sogle­ich auf­grund des Fehlens ein­er Erzäh­lung aufge­fall­en.

Leben ist erzählen Jed­er Men­sch erzählt, sein ganzes Leben lang. Und mit seinem Erzählen erin­nert sich der Men­sch an das, was er bere­its erlebt hat. Gle­ichzeit­ig inter­pretiert er in den Erzäh­lun­gen Erlebtes, denn der Men­sch belässt es erzäh­lend nicht beim Beschreiben, son­dern bew­ertet das Beschriebene in der Regel auch noch. Den gle­ichen Vor­gang vol­lzieht der Men­sch, wenn er seine Wahrnehmung in Musik, Malerei, Bild­hauerei oder anderen Medi­en umset­zt. Denn Erzäh­lun­gen sind nicht an gesproch­ene Sprache gebun­den, son­dern an das Leben. Ein sich gegen­seit­ig bedin­gen­des Gefüge von Gesagtem und Wegge­lassen­em. Eine Ver­ar­beitung und Bew­er­tung dessen, was erlebt, und sich selb­st zugeschrieben wird. In diesem Prozess ver­lei­ht sich der Men­sch Sinn. In diesem Prozess find­et er seine eigene Iden­tität, und erhält von Drit­ten Iden­tität zugeschrieben. Erzählen ist damit ein Akt des sich selb­st Ken­nen­ler­nens.

Mit dem Erzählen kommt also auch Selb­sterken­nt­nis. Men­schen, die sich nicht mehr an ihre eigene Geschichte erin­nern kön­nen, ver­lieren auch ihre Iden­tität. Das Selb­st ist untrennbar mit der eige­nen Erzäh­lung ver­bun­den. Und Erzählen behan­delt nicht nur selb­st Erlebtes, son­dern gibt auch Infor­ma­tio­nen Drit­ter wieder. Dadurch ist Erzählen das wichtig­ste Instru­ment, um sub­jek­tive wie auch kollek­tive Wirk­lichkeit zu schaf­fen.

Kun­st baut Wirk­lichkeit mit Die Kun­st hat seit je her viel zur sub­jek­tiv­en und kollek­tiv­en Wirk­lichkeit beige­tra­gen. Zum Beispiel ver­ar­beit­en seit zweitausend Jahren Kun­stschaf­fende aller Rich­tun­gen die Geburt Jesu Chris­tus in Liedern, Bildern oder Skulp­turen. Mit ihrer Arbeit haben sie den Diskurs weit­erge­führt und dieses Ereig­nis, das his­torisch noch nicht ein­mal belegt ist, für einen ganzen Kul­turkreis zur kollek­tiv­en Wirk­lichkeit wer­den lassen. Ohne Untertrei­bung kann gesagt wer­den, dass men­schlich­es Bewusst­sein und men­schliche Gemein­schaft auch in der Kun­st auf Erzäh­lun­gen baut.

Eine Gesellschaft ohne Erzäh­lun­gen, in welch­er Form auch immer, wäre undenkbar. Fehlt ein so zen­trales Ele­ment in der zwis­chen­men­schlichen Kom­mu­nika­tion, hat dies fatale Fol­gen. Da nun Kun­st aufge­hört hat zu erzählen, hat sie auch aufge­hört, ein Gegenüber zu sein. Und ohne Erzäh­lun­gen kann zwis­chen Kunst­werk und Betra­chter keine Ver­ständi­gung mehr stat­tfind­en.

Aus dem Leben in die Beliebigkeit Allerd­ings scheint es, als ob die Kun­st der Gegen­wart dem Erzählen abgeschworen hätte. Ja sie ver­leugnet in einem gewis­sen Sinne sog­ar ihre eigene Geschichte. So mei­den heute viele Werke den Bezug zur Ver­gan­gen­heit wie der Teufel das Wei­h­wass­er. Man will ja eigen­ständig sein. Ein­gelegte Haifis­che, Müll­berge, Farb­muster, oder die Abbil­dung per­vers­er Lüstlinge mögen Teil der Per­son des Kun­stschaf­fend­en sein, erzählen tun sie dem Betra­chter nichts. Denn selb­st, wenn ihnen eine Erzäh­lung innewohnt, ihr Motiv ist zu abstrakt, als dass sie damit tat­säch­lich einen konkreten Anschluss­diskurs anre­gen kön­nten. Wer die Kun­st­geschichte ken­nt, ord­net ein solch­es Kunst­werk als Entwick­lungss­chritt ein. Für sich allein gese­hen ist das Motiv aber, wie schon gesagt, nicht mehr selb­stre­dend. Ein Müll­berg ist Zeuge des Zeital­ters der Erfind­ung von Plas­tik. Erzählt er aber auch vom Leben? Kri­tik ist noch keine Erzäh­lung. Kri­tik ist eine Metaebene über der Erzäh­lung. Jede Ver­pack­ung hat­te ihren Ver­brauch­er. Aber der ist es nicht, der im Müll­berg dargestellt wird. Im Müll­berg bleibt er anonym. Vielle­icht prangert der Müll­berg das Fehlver­hal­ten mit dem Werk­stoff Plas­tik an. Schön, aber auch das ist noch keine Erzäh­lung. Geometrische For­men, Farb­muster, Lüstlinge, Mas­sen­gräber, Tier­knochen, Hun­dekot und aus­gestopfte Pferde mögen Req­ui­siten sein, eine Erzäh­lung sind sie noch nicht.

Jedes Wort und jedes Ding ist mit Bedeu­tung aufge­laden. Aber eben nicht nur mit ein­er Bedeu­tung, son­dern mit vie­len Bedeu­tungsin­hal­ten. Ein Mas­sen­grab ste­ht nicht nur für den Tod, son­dern auch für Epi­demien oder bru­tal­en Massen­mord. Die Assozi­a­tio­nen zu Farb­mustern sind so beliebig wie die Deu­tung von Far­ben oder For­men. Dieser Abstrak­tion­s­grad hat den Inter­pre­ta­tion­sraum, den der Betra­chter in das Werk lesen kann, unendlich gross wer­den lassen. Damit sind Aus­sagen der Kun­st genau­so beliebig gewor­den, wie die Kun­st selb­st.

Wohl beruhen diese Aus­sagen manch­mal auf Erzäh­lun­gen, die bere­its kollek­tive Inhalte und Zusam­men­hänge gespeist haben. Welche Erzäh­lung aber tat­säch­lich hin­ter diesen Werken steckt, kann der Betra­chter durch die Begeg­nung mit dem Kunst­werk allein nicht mehr her­aus­find­en. Denn war dem Betra­chter eines Mari­abildes auf­grund des Kon­textes klar, dass es um eine Heilige des Chris­ten­tums geht, kann er bei einem Müll­haufen aus Plas­tik nicht mehr nachvol­lziehen, unter welchen Umstän­den dieser ent­standen ist. Ste­ht er für den falschen Umgang bei der Entsorgung von Plas­tik? Oder ste­ht er für Plas­tikre­cy­cling? Oder vielle­icht geht es gar nicht um Plas­tik, son­dern um die Form, die entste­ht, wenn Plas­tikver­pack­un­gen aufeinan­der getürmt wer­den?

Etwas im Gegenüber aus­lösen Solche Kunst­werke sind kein Ersatz für Erzäh­lun­gen. Denn Erzäh­lun­gen struk­turi­eren die Zeit, schaf­fen Kon­ti­nu­ität, schöpfen Hoff­nung und eröff­nen den Hand­lungsspiel­raum, schaf­fen Ord­nun­gen und Bezugsys­teme, stiften Sinn und Bedeu­tung, bestäti­gen oder unter­graben Regeln, Nor­men und Ver­hal­tensregeln und bauen und erhal­ten Kul­tur und Tra­di­tion. Erzäh­lun­gen sind also Teil der Erzählstränge, die das Leben jedes Men­schen struk­turi­eren. Kann das auch ein weiss­es Quadrat auf weis­sem Hin­ter­grund? Nein. Wed­er erset­zt ein Wort eine Erzäh­lung, noch kön­nen in einem Kunst­werk ver­ar­beit­ete Ver­satzstücke eine ganze Welt repräsen­tieren. Denn wenn Kun­st erzählt, soll sie wie jede Erzäh­lung etwas Bes­timmtes im Gegenüber aus­lösen. Die Gedanken im Kopf des Gegenübers sollen in eine bes­timmte Rich­tung geleit­et wer­den. Denn eine Siegesstat­ue sollte, zum Beispiel, dem Betra­chter die Macht und die Legit­i­ma­tion des Siegers vor Augen führen. Damit wurde die Erzäh­lung des Siegers als die richtige markiert. Oder die magis­che Zeich­nung des Schama­nen erzählte den Jägern vom gewün­scht­en Erfolg, und führte sie in Gedanken zum ersehn­ten Ziel. Will ein Kun­stschaf­fend­er erzählen, sollte er sich auch über­legen, wie er das bew­erk­stel­li­gen will. Son­st kann der Kun­st­be­tra­chter die Erzäh­lung nicht wirk­lich her­ausle­sen. Wie viele Besuch­er von Vernissagen kön­nen wirk­lich noch von sich behaupten, sie hät­ten ver­standen, was der Kün­stler mit seinen Kunst­werken aus­drück­en wollte?

Gewin­nen oder Ver­lieren Ich mache mich dafür stark, dass Kun­st erzählt, weil gute Erzäh­lun­gen per se ein Gewinn sind. Erzäh­lun­gen frischen Erin­nerun­gen auf, brin­gen Erken­nt­nis­gewinn, ver­schaf­fen Autonomie, und stärken den Zusam­men­halt zwis­chen den Men­schen. Das mag unortho­dox erscheinen, ist doch die Kun­st zurzeit vor allem auf sich selb­st und weniger auf ihr Gegenüber fokussiert. Sollte die Kun­st aber ihr Gegenüber noch ganz ver­lieren, ver­liert sie auch ihre eigene Daseins­berech­ti­gung. Wie die Erzäh­lung an sich, ist Kun­st Teil der Wirk­lichkeit des Men­schen. Sie bietet sinnliche Wahrnehmung und sie ist lange ein Teil des Erzählgutes der Men­schheit gewe­sen.

Wer nicht erzählen kann, fällt aus der Gesellschaft. Gesellschaften ohne Erzäh­lun­gen zer­fall­en. Und Kun­st, die nicht erzählt, ist nut­z­los. Trotz­dem wurde in der Gegen­wart das Ende der grossen Erzäh­lun­gen aus­gerufen. Erzählen gilt nun als ver­al­tet und über­holt, als ob der Men­sch sich selb­st als ver­al­tet und über­holt erk­lären würde. Dabei stellen Erzäh­lun­gen die wesentlichen Fra­gen des Men­sch­seins und erfassen die grundle­gen­den Prob­leme und Hoff­nun­gen men­schlich­er Exis­tenz. Ver­ban­nt der Men­sch das Erzählen aus dem All­t­ag, raubt er sich auch die Iden­tität, den Sinn und den Zusam­men­halt.

Für die Kun­st bietet sich hier eine riesige Chance. Wen­det sie sich wieder der Erzäh­lung zu, gewin­nt sie enorm an Bedeu­tung. Die Kun­st, heute eher eine Ran­der­schei­n­ung, kann so an Wirkungs­macht gewin­nen. Übern­immt sie das Erzählen, hat sie ein Instru­ment in der Hand, das das Bewusst­sein der Men­schen enorm zu bee­in­flussen und zu struk­turi­eren ver­mag. Allerd­ings bedeutet das wie gesagt ein enormes Umdenken auf Seit­en der Kun­stschaf­fend­en, und lädt ihnen plöt­zlich sehr viel Ver­ant­wor­tung auf.

Aber zu erzählen ist für Kun­stschaf­fende nicht nur attrak­tiv, weil es Ein­fluss ver­schafft. Erzählen ist für Kun­stschaf­fende auch sehr attrak­tiv, weil es die Kreativ­ität beflügelt. Die Span­nweite der grundle­gen­den The­men der Men­schheit ist gross: Macht, Ret­tung, Erlö­sung, Liebe, Gerechtigkeit, Ver­rat, Ini­ti­a­tion, Bruch, Tod, List, Rache, Sicher­heit sind nur einige auf der Liste, und das Beste daran ist, dass diese The­men zeit­los sind, weil sie das Men­sch­sein an sich aus­machen. Ent­ge­gen der gegen­wär­ti­gen Ten­denz, dass Kunst­werke bald wie Kon­sumgüter mit Halt­barkeits­dat­en verse­hen wer­den müssen, kön­nen sie wieder zeit­lose Aktu­al­ität erk­lan­gen.

Wollen Kun­stschaf­fende erzählen, müssen sie sich allerd­ings auch wieder ern­sthaft mit dem Men­sch­sein auseinan­der set­zen. In der Abstrak­tion, in der Metaebene, in der Kri­tik tun sie das nicht. Und es ist harte Arbeit, denn im Gegen­satz zu den Kun­stschaf­fend­en der ver­gan­genen Zeital­ter haben die Kun­stschaf­fend­en von heute keine gesellschaftlichen Insti­tu­tio­nen mehr, die ihnen die The­men sprich­wörtlich auf dem sil­ber­nen Tablett servieren. Sie wer­den selb­st abwä­gen müssen, ob sie mit ihrer Kun­st Ord­nun­gen und Nor­men bestäti­gen wollen, ob sie sie in ein Span­nungsver­hält­nis set­zen, oder gar in Wider­sprüche ver­wick­eln. Und ihr Ein­fluss wird gröss­er sein als je zuvor, weil das alltägliche Erzählen so sehr an Bedeu­tung ver­loren hat.

Erzäh­le, liebe Kun­st Kun­st soll erzählen. Erzäh­lun­gen sind kein Anachro­nis­mus, keine alterss­chwache und ver­staubte Sprach­hand­lun­gen. Men­schen brauchen Erzäh­lun­gen, wie sie Luft zum atmen brauchen. Und erst wenn ein Men­sch stirbt, enden auch seine Erzäh­lun­gen. Ein afrikanis­ches Sprich­wort besagt: «Wenn ein Men­sch stirbt, ver­bren­nt mit ihm eine Bib­lio­thek». Anstatt eine Mitläuferin in der Demon­tage der grossen The­men der Men­schheit, und dabei behil­flich zu sein, die daraus gewun­de­nen Erzählstränge abzuschnei­den, sollte die Kun­st ihre Chance nutzen, und diese Erzäh­lun­gen weit­er­führen. Damit ein­her geht für die Kun­stschaf­fend­en die Notwendigkeit, Ver­ant­wor­tung für ihr Han­deln zu übernehmen, und umzu­denken: weg von ihrer intro­vertierten Selb­stver­liebtheit zum ehrlichen Inter­esse am Gegenüber.

Foto: zVg.
ensuite, August 2010