Von Vesna Mlakar — Seit 36 Jahren kreiert Lin Hwai-min mit Tänzern seines Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan bewegte Bilder, die vom puren Energiefluss der Körper leben. Oft abstrakt in ihrer Anmutung, elektrisiert ihre Sogkraft. Was die Choreografien des am 19. Februar 1947 in der Provinzstadt Chiayi als Sohn eines Ministers der Kuomintang-Regierung geborenen Taiwaners außerdem auszeichnet, ist die Verschmelzung von chinesischen Tanz- und Theatertraditionen mit Elementen abendländischer Kultur und des Modern Dance.
Nach einem Journalistenstudium in seiner Heimat und einem Studienaufenthalt in den USA, wo er von der Literatur zum Tanz wechselte, gründete Lin 1973 in Taipeh sein eigenes Ensemble – die erste moderne Tanzkompanie aller chinesischsprachigen Länder überhaupt. Obwohl es heute in China viele kleinere zeitgenössische Ensembles gibt, ist das Cloud Gate Dance Theatre die einzige professionelle Kompanie, deren – ausschließlich asiatische – Mitglieder in Vollzeit beschäftigt sind.
Seit letztes Jahr ihr Studio einem Brand zum Opfer gefallen ist, arbeiten sie unter erschwerten Bedingungen. Auch deshalb kommt – so betonte Lin Hwai-min anlässlich der Verleihung des Movimentos-Tanzpreises 2009 für sein Lebenswerk in Wolfsburg – die mit 20 000 Euro dotierte Auszeichnung zum richtigen Zeitpunkt. Weltweit hatten bis dahin bereits 5 000 Menschen für die neue Heimstätte des Gloud Gate gespendet, die voraussichtlich 2012 ihre Türen öffnen wird.
ensuite — kulturmagazin: Das tägliche Arbeitspensum ihrer 24 Tänzerinnen und Tänzer umfasst neben der Repertoirepflege Klassisches Ballett, Modern Dance, Tai Chi Tao Yin, Kampfkunst sowie das Ausdrucksvokabular der chinesischen Oper und Mediation.
Lin Hwai-Min: Jeder Tag ist eine neue körperliche und geistige Herausforderung. Gegen 10 Uhr morgens betreten sie das Studio, um es acht Stunden später wieder zu verlassen. Natürlich wird nicht ununterbrochen trainiert. Manche proben ein altes, andere ein jüngeres Stück, oder beschäftigen sich mit etwas anderem. Auf Tourneen (1981 führte uns die erste nach Europa) haben wir verschiedene Werke im Programm und studieren nebenher – Passage für Passage – Neues ein. Moon Water zum Beispiel entstand in München. So nehmen Eindrücke von Aufenthalten im Ausland, wie ein Park voll rot blühender Kamelien vor zwei Jahren in Portugal (verarbeitet in Whisper of Flowers), auch Einfluss auf meine Arbeiten.
Die Begabung, sich poetisch auszudrücken, wurde Ihnen ja sozusagen in die Wiege gelegt…
Oh ja, ich war ein sehr guter und sehr berühmter Schriftsteller – als ich noch jung war. Schon mit Vierzehn habe ich eigene Geschichten und Gedichte veröffentlicht und mit 21, 22 Jahren Bücher herausgebracht, die großen Erfolg hatten. Anfang der 1970er-Jahre war es ein Literaturstipendium, das mich an die Universität von Iowa führte. Zwar erwarb ich dort den Master’s Degree in einem «Writer’s Workshop», doch wann immer es ging, war ich im Tanzstudio. Auch heute noch schreibe ich gerne, aber es ist schwer, Worte zu finden. Genau wie das Tanzen erfordert es kontinuierliche, harte Arbeit. Und ich bin ungeduldig, ständig in Bewegung, auf dem Sprung.… Es fällt mir schwer, ruhig zu sitzen.
Woher nehmen Sie ihre Inspiration?
Meine Meditation hilft mir, mich zu konzentrieren. Das klärt meinen Körper und Geist, und irgendetwas kommt mir in den Sinn. Ich greife die Idee auf und versuche, das neue Stück wie aus einem Block heraus zu meißeln. Das kann Jahre dauern, manchmal sogar noch länger. Wobei Tanz zu kreieren bei weitem nicht so schwierig ist wie die Bewältigung der alltäglichen Erfordernisse (Lin lacht und fügt ein, es wäre besser, er würde weniger rauchen – und dass er es hasst, vor zwei Uhr nachts ins Bett zu gehen, weil er lesen will). Choreografieren ist eine Art von Abenteuer, und ich muss mir jedes Mal den Weg durch einen Dschungel schlagen.
Wenn Sie ins Studio kommen, haben Sie da schon eine fixe Vorstellung im Kopf?
Nein, keinesfalls. Ich beginne in einer Richtung, und dann suchen wir gemeinsam nach Schritten. Manchmal bitte ich die Tänzer, über drei Wochen hin zu improvisieren und Bewegungsmaterial zu (er)finden, welches ich dann ergänze. Oder ich rechoreografiere, was sie mir vorschlagen, und wir setzen es anschließend zusammen. Dabei fordern wir uns ständig gegenseitig heraus. Mehr als sechs bis acht Wochen haben wir jedoch nicht dafür, denn wir müssen ja Vorstellungen geben. Anders als in Deutschland, wo viele Kompanien vom Staat unterstützt werden, erhalten wir nur circa 15 Prozent unserer Gesamtkosten, 35 Prozent decken private Sponsoren und Schenkungen ab. Den Rest müssen wir durch Auftritte in Taiwan und im Ausland einspielen.
Sie haben sich mit den klassischen Tanz- und Theatertechniken ihres Landes beschäftigt und inhaltlich Geschichten oder Themen ihrer Heimat aufgegriffen. Die Wurzeln des Cloud Gate Dance Theaters liegen in der chinesischen Tradition. Merken Sie Unterschiede in der Rezeption, je nachdem, ob sie in Asien oder Europa auftreten?
Ich skizziere Szenen und (auch politische) Erfahrungen aus meinem Alltag in Asien. Mein kultureller Hintergrund ist chinesisch. Aber die Produktionen, die wir machen, sind zeitgenössisch, da wir moderne Menschen sind. Wir reproduzieren nichts. Wenn sie so wollen: Wir Taiwaner trinken Espresso – der ist in zwei, drei Schlucken weg – und genießen unseren Tee, was ein ganzes Ritual beinhaltet. Wir surfen im Internet und besuchen Tempel, um zu beten.
Was das Publikum angeht, so ist die Begegnung stets sehr intensiv. Aber ich denke, was sie wahrnehmen, ist verschieden. Moon Water beispielsweise ist ein Stück zu Musik von Bach. Das kommt in Berlin ganz anders an als irgendwo in Taiwan auf dem Land, wo niemand Bach kennt. Oder Cursive. Selbst Chinesen sind keine Experten in Kalligrafie, aber anders als Europäer glauben sie, sich darin auszukennen. Mit welchem Background auch immer, ich bin überzeugt, die Schönheit und Spannung einer Bühnenaufführung ist allen Menschen zugänglich.
Neben ihrer Arbeit als Choreograf haben sie sich auch für die Ausbildung eingesetzt und 1983 den Fachbereich für Tanz an der National Taipeh University of the Arts eröffnet. In Kambodscha gaben Sie Workshops und halfen, Lehrmaterial für den klassischen Tanz der Khmer zu entwickeln. Warum haben sie 1988 ihre Kompanie für drei Jahre aufgelöst?
Parallel für meine Tänzer da zu sein und fünf Jahre an der Universität zu unterrichten hatte mich ausgebrannt. Als ich 1991 wieder aus den USA zurückkam, sprachen mich im ersten Monat über 11 Taxifahrer darauf an, warum ich die Kompanie eingestellt hätte. Ich fühlte mich schuldig und erkannte, wie wichtig es war, das Cloud Gate wieder weiterzuführen. Ich hatte ja damit angefangen, weil ich – gemeinsam mit einigen Gleichgesinnten – meine Passion für den Tanz mit den Bewohnern der Kommunen teilen wollte. Heutzutage ist das Cloud Gate so mit Tourneen ausgelastet, dass kaum noch Zeit für Gastspiele in den Gemeinden bleibt. Deshalb gibt es noch eine zweite Truppe, das Cloud Gate II. Diese 12-köpfige «kleine Schwester» führt seit zehn Jahren Stücke junger Kollegen in ganz Taiwan auf.
Ist Ihrer Kompanie auch eine Schule angegliedert?
Ja, aber wir unterrichten keine Technik. Ein Geflecht von mittlerweile 21 Schulen, die über die Insel verteilt sind, vermittelt in «Kreativklassen» das Bewusstsein für die Umgebung und den eigenen Körper. Das ist besonders wichtig, weil die chinesische Kultur den menschlichen Körper kaum beachtet. Wir sprechen nicht über Körpererfahrungen und manche Menschen kennen ihren eigenen Leib nicht einmal. Einzelkinder sind die Regel, ebenso wie kleine Wohnungen. Wachsen die Kinder heran, hocken sie auf engem Raum vor dem Fernsehen oder am Computer. Wir bieten dagegen Beschäftigungsalternativen, die sich um das Leben selbst drehen. Und das ab vier Jahren – auch gemeinsam mit den Eltern – und bis ins Teenageralter. Dabei beginnt jede Stunde mit Mediation, denn so legen auch die Jüngsten die Hektik der Straße ab, atmen durch – öffnen sich. Die Nachfrage nach unseren Kursen ist enorm und derzeit betreuen wir ungefähr 12 000 Kinder.
Wir haben aber auch Projekte, wo Lehrer in entlegene Ortschaften gesandt werden, traumatisierte Kinder zum Beispiel nach Erdbeben über Jahre hinweg betreuen oder mit Jugendlichen in Besserungsanstalten arbeiten. Dieses Jahr hat uns zudem die Robert H. N. Ho Family Foundation in Hong Kong zu einer Kooperation eingeladen. Da geht es um die Förderung minderbemittelter Kinder.
Dieser Aspekt des Cloud Gate Dance Theater ist bei uns kaum bekannt.
Ich bin sehr, sehr glücklich, dass wir diese Schulen haben. Interessant zu beobachten ist, dass keiner der Schüler plant, Tänzer zu werden. Doch wenn sie sich mit zehn oder zwölf Jahren entscheiden, mit einer technisch fundierteren Ausbildung weiterzumachen, zählen sie zu den besten Studenten, da ihr Gefühl für Rhythmus, ihr Körperbewusstsein und ihre Auffassungsgabe, aber auch der freie Umgang mit Bewegungen so ausgeprägt sind.
Wir lieben es, vor Publikum aufzutreten. Bei unseren jährlichen Open Airs in diversen Städten kommen 50 000 bis 60 000 Menschen, um uns zu sehen. Das ist wie bei einem Rockkonzert – nur dass eben Tanz im Mittelpunkt steht. Andererseits wollen wir jungen Leuten eine Einführung in den Umgang mit dem Körper und einen ersten Antrieb, sich zu bewegen, geben. Richtig oder falsch, gut oder schlecht, Sieger oder Gewinner gibt es dabei nicht. Es geht ausschließlich um sie und ihren Körper – und das, so finde ich, ist wunderbar.
Bild: Cloud Gate Dance Theater / Foto: zVg.
ensuite, September 2009