Von Kondrad Pauli — In Theaterbesuchen hatte die junge Frau, die allem Lärmigen und Betriebsamen gerne aus dem Wege ging, endlich eine Schutz-Zone, ein Refugium gefunden, wohin sie aus den Zumutungen des Tages flüchten konnte. Während sie sich solcherart mehr und mehr abschirmte, sich aus manchem heraushielt, freute es sie, all die Eindrücke und Anregungen vom Spiel auf der Bühne und hinter Vorhängen entgegenzunehmen und aufzubewahren. Gelegentlich liess sie sich auch verzaubern, sei es von der Musik, vom Hauptdarsteller, von den Kostümen, vom Bühnenbild. Gestärkt ging sie jeweils nach Hause, trug Gedanken und Klänge mit sich fort in die Nacht, in den Alltag – und hatte schon den nächsten Theaterbesuch geplant. So lebte sie gleicherweise von der Erinnerung und der Vorfreude. Allem Übel, das täglich auf der Welt geschah und ihr in den Medien entgegenschrie, wich sie nach Möglichkeit und immer geschickter aus. Sie hörte und schaute weg, schaute und hörte umso aufmerksamer hin, was auf der Bühne geschah.
Einmal war Aufruhr in der Stadt. Sie hatte, auf dem Weg ins Theater, von einer geplanten Demonstration gehört, hatte sich, ohne zu fragen, wogegen oder wofür denn demonstriert werde, eilig davongemacht, sich früh ins Theatergebäude geflüchtet, wo sie, auf einem Stuhl sitzend, im Programmheft las und sich einstimmte in den Abend. Mühelos gelang es ihr, die Aussenwelt zu vergessen. Der Augenblick, in dem die Lichter gelöscht wurden, auf der Bühne dafür ein gedämpftes, dann strahlendes Licht sich ausbreitete, nahm sie gefangen. Wenn sie zu bestimmen gehabt hätte, sie würde auf die Pause verzichtet haben. Was auf der Bühne auch immer geschehen mochte — ihr war feierlich zumute. War die Vorstellung zu Ende, tröstete sie einzig die Aussicht auf den nächsten Besuch.
In der Pause, erfüllt von Eindrücken, belebt von Botschaften, blieb sie, abseits von anderen, in einer Ecke stehen; alles um sie herum war zu laut, ihr schien, die Leute hätten sich schon abgewandt von dem, was in ihr nachklang, was sie hüten wollte wie einen Schatz. Viele standen bei Getränken, und die Gläser klirrten. Auf einmal hörte man einen entsetzlichen Lärm. Geschrei. Die beiden mächtigen Haupttüren wurden aufgerissen, und Vermummte stürmten die Halle, schoben weg, was im Wege war, eilten zum Getränkestand, wischten die Gläser auf den Boden, warfen Flaschen an die Wände, trafen gezielt auch den Leuchter. So rasch sie gekommen, so rasch waren sie wieder weg. Die Pause war das Ende der Vorstellung. Keiner hätte sich eine Fortsetzung gewünscht. Endlich ging auch die junge Frau hinaus, machte sich, nachdem die Tränengasschwaden sich verzogen hatten, traurig auf den Heimweg. An Schlaf war nicht zu denken.
Foto: zVg.
ensuite, Oktober 2010