Von Konrad Pauli — Nichts hatte er sich für diesen Morgen vorgenommen. Solchen Luxus konnte er sich heute leisten. Also stieg er in die Strassenbahn, mal sehen, wohin sie dich fährt, sagte er sich. Natürlich wusste er genau, welche Linie er fuhr, aber in Ermangelung eigener äusserer Bewegtheit war’s reizvoll, sich der Strassenbahnfahrt zu überlassen. Er wusste, dass nicht mit jeder Station das Sensationelle wuchs, dass also an der Endstation sehr wohl die Ernüchterung neben oder in ihm Platz nähme. Darauf gefasst, erwartete er nichts. Wenn er nichts erwartete, ehrlich, nicht gewissermassen als Trick, glich das Nichteingetretene zuweilen dem Ereignis, wenn nicht dem Abenteuer. Zumindest vermochte er so ab und zu die selbstverschuldete Enttäuschung bravourös zu verscheuchen. Doch diesmal geschah unerwartet das Ausserordentliche. Er hielt sich nahe bei der Tür an der Stange fest, weil er die Kurven kannte, die einen leicht in Schräglage und aus dem Gleichgewicht bringen konnten. An der nächsten Station stieg eine über alle Massen hübsche junge Frau ein, blieb, weil die Fahrgäste dicht standen, neben ihm stehen, fing aber gleich mit einer Bekannten lebhaft an zu plaudern. Ihr blondes, schulterlanges Haar bezauberte ihn, aber nicht, weil es blond und schulterlang war. Bezaubernd war die Person, die es trug. Also. Er spürte und genoss ihre Nähe – die nächste Station kam früh genug, und die Trennung war das Sicherste der Welt. So unterwegs war er atemzuglang ganz bei sich, auch wenn er in keiner Weise verstrickt war in diese andere Person, dieses andere Leben. Er liebte etwas, das weder auf ihn noch auf diese schöne Frau fixiert war – er liebte das Leben. Ein paar Haltestellen lang? Nun kam doch die Kurve. Die junge Frau, selbstvergessen im Gespräch mit ihrer Freundin, verlor das Gleichgewicht, hielt sich, einem Reflex gehorchend, an ihm fest. Er gab ihr Halt, rettete sie vor einem Sturz, der womöglich – so bastelte er vergnügt am Drama – ins Spital hätte führen können. Die junge Frau lachte ihn an und entschuldigte sich in allen Tönen und Farben des Liebreizes. Dabei hatte er nichts anderes beigetragen als seine Standfestigkeit. Die aber zahlte sich nun aus. Bitte entschuldigen Sie, musizierte die Frau mit betörendem Blick und betörender Stimme – aber, es war grad so hilfreich, mich an Ihnen festzuhalten. Nur zu, sagte der so in willkommener Weise bedrängte Mann, nur zu, ich habe festen Stand. (Dabei wackelten und vibrierten schon alle seine Sinne). Die Frau entschuldigte sich nochmals; es war ihr ganz und gar nicht recht, ihn so sehr in Anspruch genommen zu haben. Also raffte er sich zu einer Kühnheit sondergleichen auf, zu einer Bemerkung, die solch gemeinsames Unterwegssein in alle Ewigkeit hätte verlängern mögen: «Ich freue mich schon auf die nächste Kurve!»
Foto: zVg.
ensuite, April 2010