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Luzern leistet

Von Kristi­na Sol­dati — Luzern leis­tet sich derzeit einiges: ein gutes Bal­lett und den Bau ein­er High-Tec-Mod­ul­halle. Auch wenn, wie oft, das eine für das andere geopfert wer­den soll. Im Novem­ber 2009 hat­te der Stad­trat als Spar­mass­nahme vorgeschla­gen, das geplante Musik­the­ater als Einsparten­haus zu betreiben und Schaus­piel sowie Tanz in die freie Szene zu ver­lagern … Nun, da ist wichtig, dass die kün­st­lerische Qual­ität Zeichen set­zt. Und dass sie lan­desweit wahrgenom­men wird. So bescheinigte der vom Rund­funk DRS angereiste Kri­tik­er, der Luzern­er Tanz sei von über­re­gionalem Inter­esse.

Seit dieser Spielzeit leit­et Kath­leen McNur­ney, jahre­lange Solistin bei Heinz Spo­er­li und chore­o­graphis­che Assis­tentin bei Richard Wher­lock, den «Tanz Luzern­er The­ater». Für den «tech­nis­chen Stan­dard» war sie schon bei jenen zuständig, man ken­nt das Resul­tat, nun ist sie es in Luzern. Die Com­pag­nie blüht. Wie aber sieht es mit dem kün­st­lerischen Stan­dard aus? Dafür sind die Gastchore­o­graphen zuständig. An diesem zweit­en Bal­let­tabend der Spielzeit 2009/10 sind zwei Schweiz­er an der Rei­he. Oliv­er Däh­ler, der am «Roy­al Bal­let Lon­don» aus­ge­bildet und im «Königlichen Bal­lett von Flan­dern» tanzte, sowie Ken Osso­la, der von Genf aus direkt zum «Ned­er­lands Dans The­ater NDT» ging.

Zwei anspruchsvolle Kam­mer­musik­stücke von Béla Bartók und Dim­itri Schostakow­itsch ste­hen auf dem Pro­gramm. Für das erste liess Oliv­er Däh­ler, derzeit Bal­lettmeis­ter Luzerns, das junge «Mer­el Quar­tet» anreisen. Ihr frisch­er gewagter Strich ist ganz in Bartóks Sinne und dynamisierte augen­schein­lich die Tanztruppe. Als aus­ge­bilde­ten Musik­er reizt es wohl Oliv­er Däh­ler, chore­o­graphisch mit der Musik in Dia­log zu treten. Mal greift er einem präg­nan­ten Akzent vor, wenn eine «Sie» an einen «Ihn» her­an­ren­nt und im Sprung ihr Bein wie ein Gewehr über die Schul­ter wuchtet. Der schräge Cel­lo-Ein­satz fol­gt nach wie ein Auf­schrei. Mal greift er den Charak­ter her­aus, wenn die folk­loris­tisch durch­set­zte Musik zum keck­en Paar­tanz in volk­stüm­lich­er Kre­is­for­ma­tion ver­leit­et. Däh­lers Bewe­gungsstil ist kom­plex, ori­en­tiert an den ganz Grossen mit dem Mate­r­i­al der Gegen­wart. Hans van Manens geschlossen enges Män­nerquar­tett im syn­chro­nen Gle­ich­schritt auf «die Grosse Fuge» zeigte ihm wohl, wie man dem stren­gen Ernst eines Stücks gewach­sen ist. George Bal­an­chine wie man for­mver­liebt Koket­terie begeg­net. New Yorks boden­be­gierige Tänz­er­gen­er­a­tion der Jet­zt-Zeit wiederum alles vom Gleit­en bis zum Kopf­s­tand (O. Däh­ler weilte dort dank eines Stipendi­ums). Dieses Amal­gam: Ist es eine Anlehnung an den Sezes­sion­sstil (ver­spiel­ter Jugend­stil der K.u.K‑Monarchie Ungar­ns zur Zeit des jun­gen Bartóks) oder an den heuti­gen Patch­work-Geschmack? Die Vir­tu­osität kommt so zumin­d­est zum viel­seit­i­gen Ein­satz, auch wenn man dem ungewöhn­lichen Poten­zial des jun­gen Chore­o­graphen nun ein stilles tiefes Wass­er als Quelle zum Schöpfen wün­scht. Und noch viele so gute Tänz­er, bis er seine unver­wech­sel­bare Sprache find­et.

Mut zur Langsamkeit dage­gen hat­te der schon etablierte Ken Osso­la in «White Lies». Die langjährige Rou­tine mit viel­seit­i­gen und artikulierten Tänz­ern fördert wohl die Musse, sich der ver­steck­ten Kom­plex­ität ein­fach­er Bewe­gung zu wid­men. Auseinan­der­strebende Glieder erhal­ten einen Drall oder wer­den wie von einem schwarzen Loch, das sich unverblümt an ein­er Kör­per­stelle auf­tut, plöt­zlich einge­so­gen. Die Freude an der Recherche von Bewe­gung ist dem Chore­o­graphen asi­atis­ch­er Herkun­ft anzuse­hen. Dabei reizen ihn augen­schein­lich die Gegen­sätze und Wider­sprüche. Während in trauter Zweisamkeit eine Frau sich dem Mann rück­lings über­lässt und in die Arme fällt, laufen ihr die Füsse fast davon. Wenn ein lyrisch­er Grund­ton mit expres­siv­en Aus­fällen durch­set­zt wird, stammt es aus der guten Jií-Kylián-Tra­di­tion. Ken Osso­la hat bei ihm beste Schu­lung erhal­ten …

Kon­traste regieren allen­thal­ben: Wenn ein beein­druck­endes Paar (Ihsan Rustem und Rachel Lawrence) nervös miteinan­der auszukom­men sucht, Bein und Tor­so darauf aber keine Rück­sicht nehmen, durchziehen zwei andere schlafwan­d­lerisch die Bühne. Wenn das Stück mit abflauen­der Energie endet wie auf der Bühne das Paar, das zunehmend auch ohne Kom­mu­nika­tion sich ver­ste­ht, sitzen zwei vorn und – ziehen uns Gri­massen. «Humor dabei darf nicht fehlen …» heisst’s schon im Pro­grammheft.

Das Werk nahm Intim­ität ins Visi­er, abwech­slungs- und facetten­re­ich. Mit schar­fem Blick für die kleinen und grösseren Unstim­migkeit­en bei sowas wie Ver­traulichkeit. Doch wo bleibt die Trag­weite der Musik? Sie sei Aus­gangspunkt zu Ken Osso­las Arbeit gewe­sen, ste­ht geschrieben. Das Stre­ichquar­tett Nr. 8 op. 110 ist eine bedeut­same Trauer­musik, über den Trüm­mern Dres­dens ent­standen, und man sagt, sie sei Schostakow­itschs eigen­er Abschied. Hier in der orches­tralen Fas­sung (op. 110a) schwingt auch noch Fülle mit. Doch was gehört ward, war nicht gese­hen. Keine Dra­matik, keine schick­salss­chwan­gere Dynamik. Muss natür­lich nicht sein. Wenn solche Musik aber zu «Notlü­gen», wie der Tanz heisst, inspiri­ert, da fragt man sich doch …

Wie immer Tanz sich zur Musik ver­hält: Anspruchsvoller Tanz, zumal in ver­schiede­nen Stilen ver­siert, ist von schweizweit­em Inter­esse. Einen solchen soll­ten sich die Schweiz, die kaum eine Hand­voll davon insti­tu­tionell hat, und Luzern leis­ten. Der Stad­trat tat gut daran, vor einem Monat vom Plan der Stre­ichung der Sparte Tanz (und Schaus­piel) «zurück­zukreb­sen». Auf dass uns Qual­ität erhal­ten bleibt!

Foto: Tan­ja Doren­dorf
ensuite, April 2010

 

Artikel online veröffentlicht: 19. Oktober 2018