Von Dr. Regula Staempfli - “Ohne Kultur kein Europa” – immer diese Werbeslogans des Marketing-Maskottchens Macron. “Ohne Krieg auch kein Europa” riefen ihm die Stimmen in meinem Kopf zu. Zumal Macron die Kultur über Demokratie, soziale Gerechtigkeit und die Marktwirtschaft – ja! sogar die Marktwirtschaft! — gesetzt hatte. Letzteres kauft ihm niemand ab. Niemand? Pardon. Didier Fassin bespielsweise. Er traut Monsieur le Président nicht über den Weg. Als einer der wenigen Macron-Kritiker übrigens, die sich in “Frankreich zu Gast” in Frankfurt versammeln.
Fassins “Das Leben” ist Blickänderung pur. Der Arzt, aus den Pariser Banlieu stammend, hat es Arbeiterkind bis nach Princeton geschafft. Etwas, der heutigen Arbeiterkinder- und Migrantengeneration, nicht zuletzt dank den Hollandes und Macrons, in Zukunft nie widerfahren wird.
Fassin leitet in Princeton die “School of Social Sciences”, als erster Ausländer überhaupt. Wie Didier Eribon vergisst der Intellektuelle das bücherloses Aufwachsen seiner Kindheit nicht. Zeit seines Lebens stellt sich der ausnehmend elegante und schöne Mann in den Dienst der Armen dieser Welt. Er redet ruhig, überlegt und in sehr einfacher Sprache. Ihm zuhörend dachte ich erneut, weshalb die Welt nicht von Fassin- Männern, sondern linken Klugscheissernörgler und protzigen Reichtumsmachos gefüllt ist. Überhaupt! Männer! 2017 scheinen diese en block auch die Bücherwelt wieder im eisernen, sich selber ständig zitierenden Testosteron-Griff zu haben. Erfüllte 2009 noch die unerträgliche Leichtigkeit der Weiblichkeit die Ära untergehender Buchkultur, wimmelt es 2017 ausgerechnet an der Buchmesse von gewichtigen Männergestalten, Harvey Weinsteins Aussehen durchaus nicht unähnlich. Wo haben sich denn all die eleganten Schwarzrollkragenpullover-Männer in den besten Jahren versteckt? Wann wurden die betörend charmanten Königinnen der Bücher durch unscheinbare Funktionärinnen, deren einziger Ausdruck darin besteht, jung zu sein, ersetzt?
Tatsächlich. Die Buchmesse sieht völlig anders aus.
Didier Fassin fällt deshalb umso mehr auf: Durch seine Besonnenheit, seinen scharfen Verstand und seine schon fast hypnotisch klingende Sprache. “Alle Leben sind gefährdet, aber einige sehr viel stärker als andere” fasst Didier Fassin sein bemerkenswerte Buch “Das Leben.” Dann redet er darüber und weicht immer wieder höflich den Fragen der deutschen Gastgeberin aus. Sie will nämlich nicht über Ungleichheit, Ungerechtigkeit und die Verletzlichkeit von Menschen sprechen, sondern lieber über das neue “Pärchen” (echt jetzt?) ratschen. Didier Fassin weigert sich, in eine derart oberflächliche und entpolitisierten Variante von Demokratie einzusteigen und redet weiter von Ungleichheit. Er weist die unglaublich deutsche Presse-Euphorie über die fleischgewordene Altmännerphantasie der 1968-er Männer und die neue Ikone der Reifeprüfungs-Frauen namens Macron sehr bestimmt zurück. “Macron baut den Sozialstaat ab”, der neue Präsident sei ein neoliberaler rechts-rechts Mann und verheisse punkto Ungleichheit und Ungerechtigkeit alles andere als Gutes. Nach diesen Sätzen, die ihr definitiv nicht ins Konzept passen, verweist die Moderatorin endlich aufs Buch mit dem Satz: “Das höchste Gut – das Leben.” Worauf ihr und Didier Fassin meine Stimmen im Kopf zurufen: “Nein. Das höchste Gut für die Entrechteten dieser Welt ist die Würde und die Gerechtigkeit.” Aber Stimmen können sich ja irren.
“Das Leben”, Didier Fassin. Eine kritische Gebrauchsanweisung, Suhrkamp Verlag Berlin 2016.