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«Man erfliegt das Fliegen nicht!»

Von Belin­da Meier — Wie definiert sich unsere Iden­tität? Was hebt uns von anderen ab? Weshalb sind wir stets auf der Suche und haben einen unbändi­gen Durst nach Fortschritt und Weit­er­en­twick­lung? «COME­and­GO», dieses facetten­re­iche Tanzthe­ater­stück, nähert sich leicht­füs­sig diesen grossen Men­schheits­fra­gen und bringt mit­tels Sprache, Klang und Bewe­gung ein biss­chen Licht ins Dun­kle.

«COME­and­GO» ist eine Reise durch die Sinneswel­ten. Das Stück fol­gt keinem tra­di­tionellen Ver­lauf­s­muster. Im Gegen­teil, was nor­maler­weise erst am Schluss fol­gt, nimmt «COME­and­GO» unter der Regie von Mar­i­on Roth­haar gerne mal vor­weg und begin­nt etwa mit der Zugabe, dem grossen Auftritt am Ende ein­er jeden Vorstel­lung. «Una carez­za in un pug­no», gesun­gen vom anerkan­nten Adri­ano Celen­tano Dou­ble Mar­co Zbinden, läutet so das Stück ein und sorgt damit für einen emo­tionalen Auf­takt.

Der grosse Men­schheit­straum Im Zen­trum des Stücks ste­ht der Traum vom Fliegen – im über­tra­ge­nen Sinn auch das Ziel, leicht zu wer­den und Dinge «leichter» zu nehmen: «Schw­er heisst ihm Erde und Leben. […] Wer aber leicht wer­den will und ein Vogel, der muss sich sel­ber lieben. […] Wer einst fliegen ler­nen will, der muss erst stehn und gehen und laufen und klet­tern und tanzen ler­nen – man erfliegt das Fliegen nicht!» Diese Lehren aus Niet­zsches «Zarathus­tra», im Stück sorgfältig ver­tont, sind sowohl für den Traum vom Fliegen als auch für das Stück im All­ge­meinen beze­ich­nend. Dieser seit jeher dagewe­sene Men­schheit­straum ent­fal­tet sich auf der Bühne mit­tels Text, Ton und Tanz und kul­miniert am Ende in ein­er über­raschen­den Instal­la­tion. Dabei inspiri­ert sich Mar­i­on Roth­haar an ein­er Kun­st­form des öster­re­ichis­chen Kün­stlers Erwin Wurm. Beein­druckt von seinen One Minute Sculp­tures lässt sie eben­falls solche ein­minüti­gen Skulp­turen entste­hen, indem alltägliche Gegen­stände aus ihrem Kon­text genom­men und mit den Akteuren in neue, skur­rile Zusam­men­hänge gebracht wer­den. «COME­and­GO», so heisst übri­gens auch ein Drei-Per­so­n­en-Stück von Samuel Beck­ett aus dem Jahre 1965, löst die Gren­zen zwis­chen Traum und Wirk­lichkeit auf und öffnet eine Welt magis­ch­er Wand­lun­gen, bösar­tiger Ent­blös­sun­gen und spielerisch­er Lust am Gegenüber.

Die Abhängigkeit des Ich vom Du Die Begeg­nung mit dem Gegenüber und die Auseinan­der­set­zung mit dem Anderen machen deut­lich, wer und wie wir sind. Die Iden­tität bekommt erst durch die Kon­fronta­tion mit anderen Indi­viduen Gestalt. Der Ver­gle­ich macht Unter­schiede und damit die wesens­bes­tim­menden Merk­male jedes einzel­nen Indi­vidu­ums deut­lich. Die Iden­tität set­zt daher die Exis­tenz eines Gegenübers zwangsläu­fig voraus.

Text, Ton und Tanz Das spartenüber­greifende Per­former-Trio, beste­hend aus Tänz­erin Anja Gysin, Per­former Mar­co Zbinden und Musik­er Jakob Surbeck, nähert sich durch Inter­ak­tion in Form von Tanz, Mimik, Gestik und Sprache der Frage der men­schlichen Iden­tität und lotet Grenzbere­iche sowie gegebene oder nur behauptete Gegen­sätze zwis­chen den Geschlechtern aus. In ras­an­tem Tem­po wech­seln die Szenen wie Traum­bilder oder vor­beiziehende Schat­ten und reis­sen das Pub­likum in seinen Sog. Kurze Texte von Beck­ett, Niet­zsche, Rühm und Tingue­ly fliessen an aus­gewählten Stellen ins Stück ein. Dazu wer­den elek­tro­n­is­che Sound-Loops erzeugt, die wiederum die Kör­per­be­we­gung und die Tex­trhyth­mik bee­in­flussen.

Vorstel­lun­gen in Bern «COME­and­GO», diese ein­stündi­ge Syn­these aus zeit­genös­sis­chem Tanz, Live-Ton und The­ater­tex­ten gewährt mit Leichtigkeit, Ver­spieltheit und der notwendi­gen Por­tion Humor sowie Tragik Ein­blicke in die unfass­bar vie­len Aus­prä­gun­gen und Geheimnisse unseres Seins. Nach erfol­gre­ichen Vorstel­lun­gen in Solothurn, Locarno und Biel ist das Stück Ende Monat auch in der Haupt­stadt zu sehen!

Foto: zVg.
ensuite, Sep­tem­ber 2011

Artikel online veröffentlicht: 16. Februar 2019