Von Ralf Wetzel — Lexikon der erklärungsbedürftigen Alltagsphänomene 2: Machen wir uns nichts vor, es ist ernst, wirklich ernst. Dem Patienten geht es nicht gut. Das Management der heutigen Organisation hat in den letzten Monaten und Jahren extrem körperlich, psychisch und sozial abgebaut. Indizien wie Zucken von sozialen Augenbrauen und Mundwinkeln, Sprachstörungen (inkohärente Logorrhoe) sowie geistige Abwesenheit deuten eher darauf hin, dass sich hier eine längst vorhandene Multimorbität rascher materialisiert als gedacht. Das hatte bereits Folgen für ihre soziale Behandlung. Waren seine Vertreter gestern noch die gefeierten Helden der Wirtschaftswunder, der unbezweifelten Ansage und der unfehlbaren Entscheidungen, zu denen man neidisch aufsah, findet man sie heute als marginalisierte Gruppe, über die man Witzchen machen darf. Sieht man noch das Ausmass dieses «Befalls», so erkennt man das wahre Ausmass des Problems. Es ist eben nicht mehr nur das Management von Wirtschaftsorganisationen betroffen. Symptome finden sich ebenso in Hochschulen, Krankenhäusern, in Parteien und Sozialeinrichtungen, ja sogar manch eine Armee leidet darunter. Und: Man hat es offenbar nicht nur mit einer vorübergehenden Krise zu tun, die lokal isolierbar wäre. Eigentlich sollte man wirklich langsam über einen Pandemieplan nachdenken.
Aber wofür stehen nun eigentlich die Symptome? Und was macht man nun mit dem Fall? Versuchen wir eine grobe Diagnose:
1.) Äussere Visite. Schauen wir uns zunächst die Manager als Vertreter der Funktion an. Dort findet man eigentlich nicht viel. Die sind im Durchschnitt heute weder intelligenter oder dümmer, ehrbarer oder bestechlicher als noch vor 150 Jahren, auch an der Geschlechtsidentität hat sich nur marginal etwas geändert. Das verwundert auch nicht, die klinische Organisationsdiagnostik hat längst bemerkt, dass die Manager in Organisationen eh nur als Personalisierungen, also als soziale Inszenierungen des Systems, relevant sind, auch wenn die eine Inszenierung geltungsreicher mit dem System umgehen kann als die andere. Wir müssen also «hinter» die Person, unter die «Haut» des Managements, auf der die Manager nur tanzen. Daher
2.) Magenspülung und ‑spiegelung. Was hat man denn zu sich genommen? Psychopharmaka, Drogen? Auch Fehlanzeige, lediglich Fastfood und Appetitblocker, eine feine Spur von Stimmungsaufhellern. Gereizte Magenwände und Schleimhäute, überaktive Säuredrüsen. Nun, dass das Management nicht immer in feiner Umgebung speist, überrascht nicht, da es laufend zwischen dem Innen und dem Aussen der Organisation pendelt. Da sind Verunreinigungen und Reizungen nicht auszuschliessen. Schliesslich waren diese Verunreinigungen ja funktional. Das Management schleppte laufend «Erreger» mit in die Organisation, es versorgte das System mit Informationen über den Unterschied zwischen sich und dem Rest der Welt und forderte so die Immunabwehr heraus. Aber offenbar sind hier ja nicht die Erreger das Problem. Der Mageninhalt ist ungefährlich, aber die Zusammensetzung deutet auf einen problematischen Lebenswandel hin. Hast, Depressionsnähe, instabiler Tagesablauf, also auf soziale Probleme. Wir sollten noch woanders nachschauen. Oben, ganz oben.
3.) EEG. Bingo: Sharp waves und spikes wechseln sich arhythmisch mit Delta-Wellen ab. Der Patient fällt von Momenten der Hypernervosität mit Gefahr epileptischer Anfälle in den Tiefschlaf und umgekehrt. Kein Wunder, dass er brabbelt, abwesend ist und sich zuweilen dystonisch verhält. Das deutet eher auf interne Folgen einer Beziehungsstörung mit der Organisation hin. Vermutlich kommt die Organisation selber immer stärker in einen Zustand der Erregung, in der die Management-Irritationen dem System zuviel werden, die Organisation diese Störungen nicht mehr absorbiert sondern zurückwirft und das Management mit diesen Rückschlageffekten überfordert. Dass diese dauernde Zurückweisung nicht spurlos für das Management bleiben kann, liegt auf der Hand. Das Management sieht sich seiner Funktion beraubt, die Organisation anregen zu müssen. Zustände der Nervosität und Unsicherheit sind nur verständlich. Aber das rechtfertigt immer noch nicht diese drastischen Symptome. Das massgebliche Problem liegt im Verlust der Repräsentanz des Systems. Das Management konnte der Organisation immer klar machen, was sie eigentlich ist und was nicht, ihr eine Identität verschaffen und damit sich selbst als Identitätsanker der Organisation darstellen. Wenn aber die Organisation sich ihr Management auf Distanz hält, wird das schwierig. Die Einheit geht verloren und damit eben auch die Identität des Managements. Soziale Blinddarmprobleme tauchen auf, das kann schon mal auf das neuronale Netz durchschlagen.
Und nun? Es sieht nicht gut aus, wenn sich nicht rasch etwas bessert, läuft es auf Invalidisierung und Verrentung hin. Das tönt schwierig, schliesslich lautet das Motto ja eher «Arbeit statt Rente». Aber ist die Behandlung überhaupt aussichtsreich, kommt man wieder auf das alte Leistungsniveau? Und falls nicht — wäre uns mit einem hochgepäppelten, einem Management by Wheelchair tatsächlich geholfen? Vielleicht sollte man eher Hospize (mit Snoozel-Räumen und Paliativtherapie) für schwer erkrankte Sozialfunktionen einrichten? Vielleicht hilft aber auch schon einfach eine Überweisung zur Paartherapie. Lassen wir uns mit der Entscheidung über Therapie, Rehabilitation oder Hospiz also noch etwas Zeit und vertrauen wir vorerst auf die Selbstheilungskraft der Organisation. Es gibt ein Management nach dem Management, soviel ist sicher, und vielleicht sollten wir uns nicht auf die Stärkung des Managements, sondern der Organisation konzentrieren. Nicht, das uns heuristische Schönheitsfehler unterlaufen und wir den Falschen therapieren. Zum Schluss wäre gar das Management wieder gesund und die Organisation am Boden!
* bewirtschaftet vom Kompetenzzentrum für Unternehmensführung der Berner Fachhochschule, siehe www.unternehmensfuehrung.bfh.ch
ensuite, Oktober 2009