Von Heinrich Gartentor — Dies ist die Geschichte von einem entscheidenden Anruf, dem bekannten Spieler, meiner Heimat im Geiste, einer fatalen Künstlerauswahl, einer glücklichen Rettung und meinem Rücktritt als visarte-Präsident.
Ein Anruf irgendwann im Herbst vor zwei Jahren: Herr Adhihetty fragt, ob ich Lust habe, die Seiten zu wechseln, statt Künstler Ausstellungsmacher zu sein und die «Fremdkuratierte» im Kunstmuseum Solothurn zu kuratieren. Er sei der Präsident des Kunstvereins Solothurn, und sein Vorstand würde sich freuen mich kennen zu lernen. Die Fremdkuratierte finde nun zum dritten Mal statt, erzählte Adhihetty; die Fremdkuratierte sei eine Sicht von aussen auf fünf Solothurner Künstlerinnen und Künstler. Diese seien fünf Nicht-Solothurnern gegenüberzustellen. 100’000, dachte ich. Sowas würde 100’000 Franken kosten. Ob die das Geld haben, die Solothurner?
Das Konzept hatte ich im Kopf, noch bevor unser Telefonat zu Ende war: Ich brauchte eine Stadt in Deutschland, aus welcher die fünf anderen stammten. Die zehn wollte ich erst dort, dann in Solothurn zeigen, das war ab sofort mein Plan.
Glasgow Ich erinnere mich nämlich gerne an «Glasgow» in der Kunsthalle Bern – und ich bin nicht der einzige, der sich gerne erinnert. 1997 zeigte die Kunsthalle Bern (damals war Ulrich Loock Direktor) eine Gruppe Künstler aus Glasgow1, die auch tatsächlich in dieser Stadt lebten und arbeiteten. Seither finde ich, es müsse mehr Austauschausstellungen geben. Aber keine Einweggeschichten, sondern wahrer Austausch und kein räumliches Nebeneinander, ein Miteinander.
Noch am gleichen Abend rief ich Reinhard Spieler an, den ehemaligen Direktor des Gertsch-Museums in Burgdorf und heutigen Direktor des Wilhelm-Hack-Museums in Ludwigshafen (und ab 2014 Direktor des Sprengel-Museums in Hannover). Ich hatte sowieso grad mit ihm zu tun, da er bald eine Arbeit von mir im Hack-Museum zeigen will. Ich erzählte Spieler von der Anfrage und meinem Vorhaben, und Spieler meinte, das gehe nicht, sein Museum sei auf mindestens zwei Jahre verplant, ich solle doch die Stadtgalerie Mannheim fragen, die sei neu und der Chef sei ein umgänglicher Typ. Besagten Chef rief ich am kommenden Morgen an, und er meinte nach drei Sätzen Erklärung: «Machen wir!»
Solothurn Solothurn ist meine Heimat im Geiste. Als Kanton wie als Stadt. Geboren auf der Schafmatt2, einer Bergweide mit Skilift am Übergang zum Kanton Baselland; keinen Tag dort gelebt, aber die Kulturstadt erlebt: Filme zeigen dürfen an den Filmtagen, mal selber Protagonist in einem Dokumentarfilm3 gewesen, mich geärgert, dass ich in den frühen Neunzigern nie an den Literaturtagen lesen durfte (zu Recht, denn ich hatte nur Kurzgeschichten vorzuweisen und geglaubt, die seien unglaublich phantastisch).
Solothurn ist die Heimat von Frank Buchser, und Frank Buchser ist der wichtigste Künstler der Schweiz – zumindest für mich. Buchser war 1865 erster Präsident des Verbandes, den ich heute seit bald sieben Jahren präsidiere. Heute heisst der Verband «visarte». Gottfried Keller (den wir heute als einen der bedeutendsten Schriftsteller der Schweiz verehren) hatte in einem Zirkular die Künstlerschaft zusammengetrommelt, am 28. Oktober 1885 wurde der Schweizerische Künstlerverein gegründet. Die Zeitung Der Bund wünschte ihm in der Ausgabe vom 1. November «von Herzen gedeihliche Entwicklung». Am 1. Mai 1866 ging es dann richtig los mit Statuten und allem Drum und Dran und dem Namen GSMB, Gesellschaft Schweizerischer Maler und Bildhauer. Buchser brach im Auftrag des Bundesrates auf in die USA, um Berühmtheiten zu porträtieren, und Buchser malte 1867 Woodstock so, als würde gleich das Festival stattfinden, das 102 Jahre später folgte: ein Zelt auf einem Hügel, bereit die Bands zu empfangen. Das Leben Buchsers in den USA ist in Zeitungsberichten dokumentiert, welche Buchser in den USA gesammelt, in ein Buch eingeklebt und kommentiert hat. Besagtes Buch lagert im Depot des Kunstmuseums Solothurn – und noch viel mehr Buchser‘sche Trouvaillen – nebst 80 Gemälden und unzähligen Skizzen und Zeichnungen. Frank Buchser war in den 1880er-Jahren der Begründer der Kulturpolitik in der Schweiz. Er hatte zeitlebens geschaut, dass es den Künstlerinnen und Künstlern besser ging.
Abstimmungswerbung für den 22. 09. 2013 111 Jahre besteht das Kunstmuseum Solothurn nun (gleich lang wie der Appenzeller Alpenbitter). Am 22. September 2013 stimmt die Bevölkerung darüber ab, ob es dem Museum einen neuen Kulturgüterschutzraum, also ein neues Depot gönnen will, denn es platzt aus allen Nähten und ist zudem klimatisch nicht unbedenklich. Nicht nur die Buchsers, auch die Hodels im Depot werden es danken. Auch Ferdinand Hodler war einer meiner visarte-Vorgänger (1910–1918).
Irgendwann im November 2011 besuchte ich den Vorstand des Kunstvereines und ich erzählte, was ich vor hatte (Ausstausch mit Mannheim eben). Der Vorstand segnete ab.
Solothurn Im Kunstmuseum Solothurn wird mehr für die regionale Kunst getan als anderswo. Einerseits gibt es die Fremdkuratierte des Kunstvereins, die ich also heuer kuratieren darf, andererseits immer wieder Ausstellungen mit regionalen Grössen – und dies im gros-sen Stil. Aldo Solari (2012): Phantastisch. Das Freispiel für Junge Kulturschaffende mit Solothurnbezug: Alle zwei Jahre im Kunstmuseum Solothurn. Susan Hodel (2013), grandios. Und in meinem Kanton Bern? Tote Hose (ausser in Biel).
Ich wollte Solothurnerinnen und Solothurner, die den Auftritt im Museum noch nicht hatten. Ich hatte Sam Graf und Pavel Schmidt an der Angel – und Onur Dinc im Auge. Aber irgendwie wollte der nicht passen. Die Ausstellung würde zu heterogen. Ich wusste nicht mehr weiter, doch Christoph Vögele, der Hausherr der Solothurner Höhenflüge, gab mir die entscheidenden Tipps: Ich besuchte eine gewisse Elisabeth Strässle im Atelier, und in einer Ecke stand ein Stapel nie gezeigter, gros-ser Bilder. Über Strässle fand sich im Web nur eine schlechte Abbildung eines kleinen Werkes. Wahrlich kein Grund, auf sie zu aufmerksam zu werden. Fraenzi Neuhaus besuchte ich gleichentags im Atelier. Ich hatte meine Leute zusammen, denn nun passte auch Onur Dinc. Die Ausstellung konnte nur funktionieren, wenn es eine riesige Installation sein würde, bei der man auf den ersten Blick nicht wissen konnte, was vom wem ist.
Mannheim Bis es soweit war, dass ich auch Dinc hatte, war ich oft nach Mannheim gereist. Beim ersten Besuch hatte ich den Leiter der Stadtgalerie, Benedikt Stegmayer getroffen. Er ist zugleich Kulturbeauftragter der Stadt in Sachen Visueller Kunst. Er kam mit einem riesigen Stapel Katalogen daher und meinte, ich könne diese mitnehmen und würde jene finden, die zu den Solothurnerinnen und Solothurnern passten. So war es. Philipp Morlock, der Tausendsassa, der praktischerweise auch alle billigen und trotzdem seriösen Transportunternehmen und Handwerksbetriebe kennt; Myriam Holme, die mit ihm den Off-Space «Einraumhaus» betreut (eine Version davon wird auch vor dem Kunstmuseum Solothurn aufgebaut und betrieben); Gretta Louw, die Australierin, die erst seit kurzem in Mannheim lebt und die niemand kannte (ausser eben Stegmayer); Barbara Hindahl, die Zeichnerin. – Einer fehlte noch, und ich entdeckte ihn und sein Werk nach nächtelanger Recherche im Web: Kurt Fleckenstein mit seinen Installationen, der längst fünfzig gewesen war, als er mit Kunst begonnen hatte, und mit niemandem aus Mannheim verlinkt ist.
Langsam aber sicher sickerte durch, dass ich ein Projekt Mannheim – Solothurn kuratiere. Die Anzahl Einladungen an Vernissagen und Kunstanlässe per Mail und per Post nahm sprunghaft zu.
Kein Geld Meine Wahl würde sich brutal rächen. Man darf keine Elisabeth Strässle (*1942) zeigen, und auch keinen Kurt Fleckenstein (*1949). Man darf keinen Alexander Egger (*1946) beauftragen, das Projekt als Fotograf zu begleiten. Die Jahrgänge sagen alles: zu alt für die Kunstwelt. Gewichtige Förderstellen mögen das nicht. Man darf auch keinen Onur Dinc (*1979) holen. Der fährt zu sehr seine Schiene, und seine Community liegt ausserhalb der Kunstszene. Fraenzi Neuhaus (*1957) und Pavel Schmidt (*1956) liegen auch deutlich über der Schallgrenze von 40 Lenzen. Nur Sam Graf (*1984) passt und ist für Kulturförderer sexy. Bei Pro Helvetia klingt eine Absage so: «Als nationale Stiftung unterstützt Pro Helvetia nur Ausstellungen/Veranstaltungen von überregional anerkannten KünstlerInnen. Überregionale Anerkennung ist dann gegeben, wenn Werke und KünstlerInnen regelmässig an renommierten Kunstinstitutionen in verschiedenen Sprachregionen der Schweiz und im Ausland gezeigt wurden und dabei ein überregionales Medienecho erzeugen.» Umgangssprachlich: Pro Helvetia macht nur noch auf die grössten Haufen obendrauf.
Die 100’000 kamen dann doch zusammen, dank Volksfinanzierung oder neusprachlich: Crowdfunding. Ich liess Geld drucken, bzw. eine neue Gartentor-Finanzedition in Gold, Silber und Bronze siebdrucken. Die Edition konnte man über die Crowdfunding-Plattform <wemakeit.ch> erwerben; zudem lassen sich einige in die Ausstellung Involvierte mit den Siebdrucken bezahlen. So konnte ich die Finanzmisere, welche mir insbesondere Pro Helvetia beschert hatte, ausgleichen.
Grosser Gewinner Nach Mannheim im April kommt nun also Solothurn. Die Werke der zehn Künstlerinnen und Künstler als grosse Installation also; zu durchwandern in drei Durchgängen: Die ganz grossen Rauminstallationen bestimmen den ersten Durchgang, die Wand und Bodenarbeiten den zweiten, und die Mikrozeichnungen direkt an den Wänden den dritten. Niemandem wird auffallen, ob die Künstlerinnen bekannt oder unbekannt, die Künstler jung oder alt sind, die Arbeiten alt oder neu, aus Mannheim oder Solothurn. Ein fettes Buch wird alles zusammenfassen (Buchvernissage am 22. September 2013).
Ich bin gespannt, wohin Mannheim – Solothurn meine zehn Künstlerinnen und Künstler spickt. Grosser Gewinner bin aber ganz sicher schon ich. Es hatte viel Mut vom Kunstverein Solothurn gebraucht, mich als Kurator einzuladen, von Benedikt Stegmayer, mir die Stadtgalerie Mannheim zu überlassen – und noch mehr Mut brauchte es von Christoph Vögele, zuzulassen, dass «sein» 111jähriges Museum von einem Künstler übernommen wird, denn objektiv besehen bin ich ein Risiko. Sind wir ehrlich: gros-se Würfe hatte ich nämlich ausser der Ausstellung auf dem Autofriedhof Kaufdorf (2008) bis jetzt keinen einzigen vorzuweisen. Dank dieser Risikobereitschaft ist meine Agenda bis Ende 2016 plötzlich gut gefüllt. So gut, dass ich ab kommendem Sommer nach sieben Jahren Amtszeit nicht mehr visarte-Präsident sein kann, und mehr denn je Ausstellungsmacher sein werde.
Ich hoffe, dass die Kulturförderer ihre teils unzeitgemässen Förderkriterien überdenken, in der Kunst mehr Risiko eingegangen wird, man im Kanton Bern auch an die regionale Kunst zu glauben beginnt, das Kunstmuseum Solothurn sein neues Depot erhält. Es wären Gewinne für alle.
Heinrich Gartentor (*1965) lebt in Horrenbach-Buchen in den Bergen. Er hat 2004 das Aeschlimann-Corti-Stipendium erhalten, 2007 den Kunstpreis der Stadt Bern und 2011 jenen der Stadt Thun. 2005–2007 war er erster von der Künstlerschaft gewählter Kulturminister der Schweiz.
Foto: zVg.
ensuite, August 2013