Von Dr. Regula Stämpfli - Als ich ensuite vorschlug, Michèle Binswangers neues Buch «Fremdgehen» zu besprechen, lag sofort die Aura von «Fremdschämen» in der Luft. Ich konnte förmlich spüren, wie alle Anwesenden dachten: «Ha, wussten wir es doch – la Staempfli ist die typische Fremdgängerin!» Bin ich tatsächlich, wenn wir vom «Typ» ausgehen. Bestimmte Milieus – Kultur und Medien sind da ganz weit vorne – bieten grössere Freiheiten, erotische Abenteuer mit Menschen ausserhalb der Langzeitbeziehung zu pflegen. In Michèle Binswangers Buch geht es aber um viel mehr als lediglich um Affären, Liebschaften, Betrug, ausserehelichen Verrat, Leidenschaft, körperliches Begehren oder gar um Nymphomaninnen. Es geht auch nicht spezifisch um Frauen, sondern um allgemein menschliche Themen rund um Liebe, Geborgenheit, Sicherheit und Verlass. Deshalb ist «Fremdgehen» durchaus für ein Kulturmagazin wie ensuite geeignet.
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Binswanger erzählt packend, wie sich Moral, Sex und Frauenrechte über die Jahrhunderte gewandelt haben. Sie berichtet von neueren Studien und Divergenzen punkto sexueller Lust von Frauen. Sie beobachtet scharf: «Während in vormodernen Ehen aussereheliche Sexualität zumindest beim Mann dazugehörte, begann man im Bürgertum die innereheliche Sexualität aufzuwerten und die aussereheliche zu sanktionieren. Die moralischen Regeln sind sogar eher noch strenger geworden. Auch für Männer ist Promiskuität heute etwas, mit dem sie sich öffentlich besser nicht mehr zu sehr brüsten.» Tatsächlich fördert die Verbürgerlichung rigide Formen von Sexualität, die dann gerade in deutschsprachigen Regionen teilweise mit absurdesten Sextechniken, Studios, Swingerclubs etc. kompensiert werden. Letzteres steht nicht in Binswangers Buch, sondern beruht auf Beobachtungen und Studien aus dem französischsprachigen Raum, wo Sexualität und Erotik ganz anders gelebt, zelebriert und interpretiert werden als in unseren Regionen. Womit wir bei meiner einzigen Kritik an dem zauberhaften, interessanten und weiterführenden Sachbuch «Fremdgehen» wären: Es fehlen Beispiele aus unterschiedlichen Kulturen von Frauen, die darüber informieren, ob vielleicht die Sprache, die Leichtigkeit und die Lieder die viel sinnlicheren Frauenbilder als hierzulande ermöglichen, wo das einzige Sexkriterium im Dünnsein definiert scheint. Fremdgehen, le désir, kommt im frankophonen Kontext einem eigentlichen Lebenselixier gleich. «Wahre Liebe ist so friedlich wie eine Revolution», meint Alain Badiou völlig zu Recht. Sehr erhellend sind deshalb Binswangers Ausführungen zu Alma Mahler oder der «nymphomanischen Herzogin».
«Bevor Landwirtschaft und Monogamie erfunden wurden, lebten die Menschen in engen sozialen Gemeinschaften als Jäger und Sammler. Weil das Überleben des Einzelnen von der Gruppe abhing, war zu teilen obligatorisch: Beute und Schutz wurden ebenso geteilt wie Sexualpartner, denn die Gemeinschaft war wichtiger als das Individuum», erklärt Michèle Binswanger klug und fährt weiter: «Die Ökonomisierung der weiblichen Sexualität begann, als mit der Landwirtschaft das Konzept des Eigentums Einzug hielt. Dies erlaubte die Akkumulation von Reichtum, dadurch wurde die Erbfolge wichtiger und damit die Kontrolle darüber, ob die Kinder, denen man das alles weitergeben würde, auch wirklich die eignen waren.» Es sind Informationen wie diese, die «Fremdgehen» zu einem besonderen Buch machen, weil es der Autorin gelingt, komplexe Zusammenhänge auf den Punkt zu bringen. Sie ist philosophisch, weiss viel über Wahrheit und Lüge, über Moral und die grosse Buntheit weiblichen Begehrens. Die Frage «Gehen Frauen anders fremd?» wird im Buch mit Ja beantwortet. Frauen sind sehr viel diskreter als Männer, sie wissen um die gesellschaftliche Verruchtheit ihrer Leidenschaften. Nicht nur im Hinblick auf ihren Partner oder ihre Partnerin sind Fremdgängerinnen vorsichtig, sondern überall, da Inakzeptanz meist von den engsten Freundinnen droht. Ach! Frauen sind auch heute noch ihren Zeitgenossinnen, die ihre Freiheiten unkonventionell, widerständig und unvorsichtig leben, oft sehr gram.
Trotz den notwendigen Verallgemeinerungen zu den Kategorien «Frauen» und «Männer» geht Michèle Binswanger mit den jeweiligen Rollenverständnissen sehr differenziert und umsichtig um. Sie betont an mehreren Stellen, dass die Vielfalt im Bereich der Sexualität ungebrochen ist und sich nicht einfach auf ein Geschlechterverhältnis runterbrechen lässt. «Fremdgehen» öffnet einem auch wieder die Augen für feministische Anliegen: Sexualität ist für viele Frauen tatsächlich und sprichwörtlich fluider als für viele Männer. Vereinfacht gesagt, entwickeln Männer sehr früh ein Beuteschema, Frauen dafür den Sinn für Gelegenheiten, sich immer wieder neu zu entdecken. Vielen Frauen gemeinsam ist auch die recht späte Entdeckung der eignen Sexualität, die circa Mitte 30 erfolgt und eine völlig neue Reise durch noch nie betretene, bisher geheim gebliebene Räume eröffnet. «Andere Frauen bekommen erst ab Mitte 30 eine Ahnung davon, dass es beim Sex um mehr gehen könnte als darum, den sie zwanghaft bespringenden Mann ruhigzustellen. Zum Beispiel um die eigene Befriedigung, um Spiel, um Intimität, Nähe. Man kann daran ablesen, dass sich die Motive für Sex im Laufe des Frauenlebens ändern. Oder man kann daran ablesen, dass Frauen mit den Jahren genug Selbstsicherheit entwickeln, ihre Sexualität ungehemmter auszuleben. Dass sie also von Anfang an dazu bereit wären, wenn sie nur ein bisschen besser wüssten, wie sie sexuell funktionierten.» Nymphomanie wurde noch 1952 im «Statistical Manual of Mental Disorders» als eine Störung beschrieben, die sich in einer gesteigerten Libido und einer Obsession mit Sex manifestiert. 1981 wurde sie zur psychosexuellen Störung umdefiniert, 1987 liess man den Terminus endgültig fallen. Dafür nahm man «Sexsucht» und «Hypersexualität» auf, zu welchen es ein anderes wunderbares psychophilosophisches Buch gibt: «Die Schopenhauer-Kur» von Irvin D. Yalom. Yaloms Werk kam mir öfters in den Sinn bei der Lektüre von «Fremdgehen», und mit diesem wirklich grossen Kompliment möchte ich dieses Handbuch nicht nur für Frauen, sondern für alle empfehlen.
Michèle Binswanger, Fremdgehen – Ein Handbuch für Frauen, Ullstein Verlag 2017.