Von Dr. Regula Stämpfli — Unsere Essayistin schreibt Zeitgeschichte immer wieder neu. Diesmal in den Fussstapfen des genialen Éric Vuillard:
«Auf Einladung von Niemand finden sich über Kein-ort hochrangige Vertreter von einflussreichen Netzwerken zu einem Treffen ein, um über die möglichen Zukünfte für die westlichen Demokratien zu beraten. Es sind die einschlägigen Akteure – Frauen spielen wie immer in der Geschichte keine Rolle, deshalb ist die Geschichte wie sie. Es treffen sich Macht, Netzwerk und Automatik. So beginnt die Geschichte der Unterwerfung der Demokratie, die mit dem globalen Müllhaufen enden wird.»
Willkommen bei Éric Vuillards «Die Tagesordnung», aktualisiert von mir: einmal die rechtsextreme Nazi-Variante, einmal die woke Sprechakt-Variante. Meine «XY» heissen rechtsextrem Gernot Mörig (ehemaliger Promi-Zahnarzt u. a. von Richard David Precht) und Hans-Christian Limmer (Investor im Gastrobereich, u. a. «Hans im Glück»). Keinort ist Potsdam. «In den hell erleuchteten Speisesaal eines Landhotels nahe Potsdam treten nach und nach gut zwei Dutzend Menschen.» Es geht um den «Geheimplan gegen Deutschland», aufgedeckt durch CORRECTIV (ein gemeinnützig organisiertes Medienunternehmen in Berlin): «Hier zeigt sich, was passieren kann, wenn sich rechtsextreme Ideengeber, Vertreter der AfD und finanzstarke Unterstützer der rechten Szene mischen. Ihr wichtigstes Ziel: Menschen sollen aufgrund rassistischer Kriterien aus Deutschland vertrieben werden können – egal, ob sie einen deutschen Pass haben oder nicht.» (Zitat von CORRECTIV)
«Der Geheimplan gegen Deutschland» ist die rechtsextreme Seite von «Die Tagesordnung im 21. Jahrhundert», und er verdient es – wie millionenfach auf den Strassen, im Netz und mithilfe des Rechtsstaates geschehen –, bekämpft zu werden. So weit, so wunderbar.
Der «Geheimplan gegen Deutschland» kommt vor Gericht. Der Artikel von CORRECTIV mobilisiert Hunderttausende von Menschen in vielen Städten Deutschlands – auch in der Schweiz sollen ähnliche Demonstrationen auf die Beine gestellt werden. Mit rosigen Wangen, aufgeregt-fröhlichen Gesichtern, entschlossenem Mut und eindrücklichen Sprechchören marschieren Menschen Hand in Hand, jung und alt, bunt und einfarbig, divers, LGBTQ+-engagiert, von Medien begleitet gegen die braunen Rückeroberungsfantasien von Nazis, Rechtsextremen und Rechtspopulisten. Die AfD, die für diese Bewegung steht, so die Hoffnung, wird abgebremst. Zwar liegt sie in Wahlumfragen immer noch viel zu weit vorne, doch der Diskurs rund um das von Heribert Prantl (dem ehemaligen Chefredaktor der «Süddeutschen Zeitung») und dem «Zentrum für politische Schönheit» (gegründet von einem Schweizer mit Doppelpass D/CH) lancierte «Verbot der AfD» nimmt Formen an. Entscheidend war das Jahr 2023; hundert Jahre nach dem Putsch Hitlers und der im Anschluss lächerlichen Begnadigung 1924 sollte es uns Zeitgenossen aufrütteln, den Rechtsstaat diesmal besser zu schützen. CORRECTIV hat mit dem Bericht über das Geheimtreffen der Nazis in Potsdam bewusst «Die Tagesordnung» von Éric Vuillard zum Vorbild genommen – wie klug! Vuillard gehört zu den besten Autoren unserer Zeit. Seine eigensinnige Art, Essays, Romane, Gedichte mit wahren Begebenheiten zu füllen, ist poetische Aufklärung pur. In «Die Tagesordnung» erzählt Vuillard grosse Weltgeschichte in knappen, bilderreichen, sprachlich fein ziselierten Abläufen. Wer half Hitler an die Macht? Vuillards Antwort liegt in der «Durchbrechung der Wahrnehmungsgewohnheit von Geschichte», indem er das wirkliche Treffen der wichtigsten Unternehmen und Bankiers neu erzählt: «Um besser zu verstehen, was dieses Treffen (…) bedeutet, um seinen Ewigkeitsgehalt zu begreifen, müssen wir diese Männer künftig bei ihrem Namen nennen. (…) Günther Quandt ist ein Deckname; hinter ihm verbirgt sich etwas ganz anderes als der Biedermann, der sich gerade den Schnurrbart schmierig macht. (…) Hinter ihm, ganz dicht hinter ihm, schwebt eine ungleich imposantere Silhouette, ein übermächtiger Schatten, (…) die Accumulatoren-Fabrik AG, die spätere Varta, die wir kennen. (…) So also lautet der eigentliche Name der Quandts, ihr Demiurgenname, denn er, Günther, ist nur ein winziger Haufen Fleisch und Knochen wie Sie und ich, und nach ihm werden seine Söhne und die Söhne seiner Söhne den Thron besteigen. Der Thron aber bleibt, wenn der kleine Haufen Fleisch und Knochen in der Erde verschimmelt.»
Vuillards Text ist mächtig, erzählt davon, wie der Nationalsozialismus etwas schimmeln kann, die Unternehmer und Bankiers indessen bis heute ihre Nachkommen vergolden und unsere Politik gestalten.
Meine Aktualisierung Vuillards, so habe ich es Ihnen versprochen, beschäftigt sich nicht nur mit Rechtsextremismus – ist ja klar, sonst würde ich nicht an der HSG die «Hannah Arendt Lectures» leiten.
Ich sehe nämlich ein weiteres Geheimtreffen. Es trägt den Namen «THREAD» und ist die offene Eroberung der Welt als Code. Keinort ist das Netz, und die Akteure heissen Mark Zuckerberg, Shou Zi Chew, Pawel Durow, Elon Musk, Sundar Pichai, Tim Cook, Arvind Krishna, Satya Nadella, Jeff Bezos, Andy Jassy, Larry Fink, David Solomon.
Das Treffen von Mark Zuckerberg, Shou Zi Chew, Pawel Durow, Elon Musk, Sundar Pichai, Tim Cook, Arvind Krishna, Satya Nadella, Jeff Bezos, Larry Fink und David Solomon hat nach Stand der Öffentlichkeit so nie stattgefunden. Muss es auch nicht. Die Rechten treffen sich in Geheimbünden, um dann öffentlich den Altenteil der unansehnlichen Männer und Frauen in ihrer mittelalterlichen Frustriertheit rechtsextrem zu mobilisieren. Die Schattenmänner von Facebook, Tiktok, Telegram, X/Twitter, Google, Apple, IBM, Microsoft, Amazon, Black Rock und Goldman Sachs müssen sich nicht verständigen, sie operieren automatisch repetiert. Ihre Finanzen gehören keinen Politikern oder Politikerinnen, sondern ihnen selber, sie herrschen ja über die Welt – wenigstens über den westlichen Teil, wobei sie mit ihrer Kollaboration des digitalen Überwachungsstaates in der VR China auch im Osten ihre Arbeit tun. Die Quants der 1930er-Jahre gestalten ihren Einfluss nicht einfach finanziell, sondern ideell und damit milliardenfach effizienter: Sie lassen die Menschen ihre digitale Weltordnung erledigen. Smooth, für die obere und mittlere Klasse geräuschlos, grob in den unteren Schichten. Oben gibt es keine digitale Präsenz, unten sind Menschen auf digital mehr angewiesen als auf Brot und Wasser. Oben werden Kinder digitalfrei aufgezogen, unten sind Kinder digitale Kreditpunkte. Haben Sie sich noch nie gefragt, wie sog. Sexarbeit und sog. Leihmutterschaft – um nur ein paar Beispiele zu nennen – im digitalen Zeitalter so schnell Popularität erlangen konnten? Und zwar so, dass die deutsche Regierung, bei Eugenik eher gebranntes Kind, in der Koalition grün und sog. liberal, den Verkauf von Uteri zwecks Kinderaufzucht im eigenen Leib in einer sog. Ethikkommission vorbereitet? Und dieselbe Koalition grün und liberal den Entwurf des sog. Selbstbestimmungsgesetzes (völlig anders als in der Schweiz) einbringen, in welchem Menschen keine Wirklichkeit, kein Körper, sondern nur noch Sprechakte sind?
Würde Éric Vuillard doch über das schreiben – ihm würde sicherlich zugehört. Obwohl sein krasses «14. Juli» den meisten Linken, die «Die Tagesordnung» geliebt haben, keine Rede mehr wert war. Weshalb? Weil Éric Vuillard die Revolution nicht als «Avantgarde des Guten» oder als «Menschheitsadel» heroisiert, sondern aus der Perspektive des Pöbels, des revolutionären Bodensatzes beschreibt. Die Menschen, die die Bastille stürmten, konnten weder lesen noch schreiben, sie steckten in der Geschichte, waren brutal, unkultiviert und von äusserster Gewaltbereitschaft. «Man muss erzählen, was nicht geschrieben steht» – der Deutschlandfunk ärgert sich über diesen Satz Vuillards und wirft ihm – anders als bei der rechten Kritik für «Die Tagesordnung» – vor, Fiktion wie die «wahre Version der Ereignisse» zu erzählen. Seit der Lektüre von Vuillard weiss ich, was ich von Revolutionen halte: nichts. Ausser sie sehen so aus wie die Suffragetten Anfang des 20. Jahrhunderts: mit langen Röcken, Hüten und seltsamen Frisuren, getragen von Frauen in allen Alters- oder Jugendjahren. Die Französische Revolution war der ungewaschene Pöbel, der «die Tür zu unserem glänzenden Zeitalter aufgestossen» hat (Zitat Deutschlandfunk). Dann wird in postkolonialer Manier weiter ausgeführt: «Damit ‹Liberté, Égalite, Fraternité› zur ganz und gar verlogenen Chiffre unseres Zeitalters werden konnte, bedurfte es schon ansehnlicherer Akteure.» Unterirdisch dumm dieser Kommentar. Denn er zeigt, dass Vuillards Erzählung als poetische Aufklärung völlig missverstanden wurde. Vuillard geht es um Demokratie, Menschlichkeit, Verantwortung, um die wirkliche Welt, ganz im Sinne von Hannah Arendt. Es gibt für ihn Urteilskraft, die immer auf denselben politischen Weg weisen soll: die Emanzipation. Etwas, das in den letzten Jahren unter dem Einfluss der digital automatisierten Threads in postmodernen Beliebigkeitskorrelationen untergegangen ist. Deshalb schreibe ich hier «Threads im 21. Jahrhundert» – diese Treffen, die aus schönen, gesunden Frauen Müll- und Kreditpunktematerial für die Herrscher machen und den für Konsum von Menschenfleisch ausgerichteten Markt dann «Onlyfans», «Sexarbeit», «altruistische Mutterschaft» nennen. Oder «Polyamorie», die kürzlich im superlustigen Podcast «Blocked and Reported» von Katie Herzog und Jesse Singal als «Erfindung von Heteromännern, damit sie wie die Homos sorglos rumvögeln können» charakterisiert wurde.
«Die Tagesordnung» ist ein dringendes Buch und wäre noch dringender für das 21. Jahrhundert. Auch das Buch «14. Juli» gehört in unsere Zeit: Wie wäre es mit den sog. propalästinensischen Protesten, die wie selten zuvor Universität und Strasse, also Elite und Pöbel, antisemitisch befeuern?