Von Lukas Vogelsang — «Mehr Opernfreunde, Ansturm auf die Museen und ein wiederentdecktes Interesse für die Klassiker der Literatur. Die allgemeine Verblödung ist ein Märchen. Das Zeitalter der Massen-Intelligenz hat eben erst begonnen.» – So schreibt die «NZZ am Sonntag» am 4. Januar 2009, wahrscheinlich um dem neuen Jahr Mut zu machen. Es ist ein Artikel aus einem intellektuellen Medienhaus, welches vor Pragmatismus nur so stolzt. Die «NZZ am Sonntag» (NZZaS) gilt zwar als «consumer»-freundlicheres Blatt – was soviel heisst wie: massentauglich. Nach wie vor ist sie in der Zeitungslandschaft Schweiz ein massgebendes Sonntagsblatt – oder eben massengebend.
Doch zurück zu der Massenverblödung: Wenn der «Blick» über Opernhaus-Premieren schreibt, heisst dies, dass die Welt gescheit geworden ist. Wenn die dem «Blick» ebenbürdige «The Sun» in England 2200 Opernhaustickets für das Royal Opera House als Kundendankeschön für seine Abonnenten reserviert und nicht vergisst, die «Seite-3-Girls» an den Anlass zu senden, findet die Welt ihren gesunden Massenmenschenverstand wieder. Wenn klassische Konzerte in der Tonhalle Zürich mit DJ, Drinks und Party angereichert werden, bedeutet dies, dass beim Frühstück am nächsten Tag angeregt über Kant, Adorno und Obama diskutiert wird. Wer solche Kurzschlüsse produziert, hat die Welt noch nicht erblickt.
In den gleichen Baum fährt der «Tages-Anzeiger», wenn er wirklich – gemäss Stefan Wyss und Christian Lüscher, die für «persoenlich.com» recherchiert haben — meint: «Die Zeitung soll vom Belehrenden weg und mehr entsprechend dem Leserinteresse entwickelt werden. Dabei will man sich am Newsnetz orientieren.» Das Kind sieht Schokolade, will Schokolade und kriegt Schokolade – Übergewicht spielt da keine Rolle und Erziehung ist scheisse. Dieses Denken setzt voraus, dass die Moral einer Gesellschaft am nächsten Baum gepflückt werden kann und wir im Schlaraffenland auf die Welt gekommen sind. Wir leben aber auf einem Planeten, wo die Freestyle-Skifahrer ohne Helm auf der menschenvollen Familienpiste im Vollrausch rückwärts runterblochen – und selbstverständlich in mich hineinfahren.
Massen und Intellekt, Massen und Wünsche können in keiner Gleichung zu einem vernünftigen Resultat gerechnet werden. Diesen Unfug erkannten wir bereits in der Schule, wenn der Lehrer uns den Notendurchschnitt eines Faches beizubringen versuchte. Es scheint, dass VerlegerInnen und JournalistInnen der neuen Generation hier ein paar Entwicklungslücken vorweisen können. Schiller im Internet ist deswegen nicht gelesen, verstanden und noch weiter weg: gefühlt. Und das Auffinden eines Schillerzitates mit Hilfe von Google hat nichts mit Wissen zu tun, sondern ist ein logischer Schritt der Evolution: Nach dem Beschaffungszeitalter der letzten paar hundert Jahre kommen wir jetzt ins Bearbeitungszeitalter der Informationen. Jetzt müssen wir lernen, mit den Informationen und den 2’000’000 Millionen Treffern in Google etwas zu kreieren. Der sinnlose Kaufrausch ist eben gerade mit der Finanzkrise zu diesem Fazit gekommen. Die Grundlehre im Jahr 2009 heisst: Der Kunde ist nicht König, sondern Gast. Wir wollen, dass es ihm gut geht. Dazu müssen WIR etwas bieten – und zwar so, dass der Gast nicht beleidigt ist und wir sein Menschsein würdigen. Wir setzen also auch Grenzen, wenn der Gast unsere Moral übertritt. Die alte Geschichte vom «Kunde ist König» ist vorbei. Der König, welcher am Esstisch furzt, lacht und von uns erwartet, dass wir mitlachen… Saublöd.
Ein Anzeichen für einen Beweis dieser Theorie liefert die «NZZ» mit diesem hoffentlich satirisch gemeinten Artikel gleich selber: «Die Menschen wollen heute gefordert werden beim Konsumieren.» Migros, Coop, Aldi oder Lidl werden es uns bald vormachen, wenn wir vor dem Shopping beim Aufbauen des Ladens mithelfen dürfen…
Cartoon: www.fauser.ch
ensuite, Februar 2009