Von Dr. Regula Stämpfli - Wer an der Zürcher Goldküste geboren und aufgewachsen ist, wer als Lehrerkind an der Uni Geschichte studierte, wer von seinem Vater, dem ehrwürdigen Oberrichter, eingebläut bekam, dass selbst Freundinnen aus der Lorraine, dem ehemaligen Arbeiterquartier in Bern, oder aus dem Kreis 4 in Zürich gleich viel wert sind wie alle anderen, der hat meist bis ins hohe Alter keine Ahnung, was es bedeutet, als Kind arm zu sein. Oder was es heisst, Kinder zu haben und arm zu sein. Weshalb Arbeiterkinder, die in Armut aufgewachsen sind, selbst im Alter nie reiche FreundInnen haben. Sie verfügen wie Weisse, die über PoC (People of Color) reden, nicht nur über zu wenig Empathie, sondern einfach über zu wenig von all dem, wovon in Armut aufgewachsene Menschen zu viel haben: Gewalt‑, Drogen‑, Sucht- und Selbstverletzungserfahrungen.
Die Schreiberlinge und ihre RepräsentantInnen haben keine Ahnung über Träume, Leben, Drogen, Traumata, Bilder, Körpergefühle, die Menschen ohne Geld, ohne Kapital, ohne Besitz umtreiben. Kein Geld zu haben, bedeutet nicht einfach Armut, sondern konstituiert zahlreiche fehlende Beziehungen zur Welt: Leerstellen. Diese werden dann mit Schrottideologien der Reichen aufgefüllt. Beispielsweise, dass Prostitution eine «Arbeit wie jede andere» sei. Die Sexindustrie, die MenschenhändlerInnen, die zahlreichen Pimps und «Loverboys» promoten mit den ihnen unglaublich wohlgesinnten Medien Prostitution quasi als soziale Mobilität für Mädchen und Frauen, die in Armut, ökonomisch prekären Verhältnissen, in dysfunktionalen Familien, mit süchtigen Eltern etc. aufwachsen mussten. In der Legende der SexarbeiterInnen gibt es nie die Geschichten der Frauen, zwei Jahrzehnte später, die ohne Geld, ohne Job, ohne Familie, ohne Ansehen, ohne soziale Beziehungen dastehen, kurz vor dem Nichts stehen. «Pretty Woman» gibt es nur in Hollywood. Denn Prostitution ist keine Karriereleiter, sondern der Treppenabstieg in die Hölle.
Zitat aus Aline Wüsts neuem Buch «Piff, Paff, Puff»: Bordellchefin Clementine antwortet im Kosmos, Februar 2020 Zürich, einer Prostituierten, die es wagte, den drei Frauen auf der Bühne, die Sexarbeit als wahre Berufung preisen, die Misere ihres ehemaligen Jobs vor Augen zu führen, folgendermassen und typisch: «Also Entschuldigung, ich höre hier eine Fragestellung aus einer akuten Opferhaltung. (…) Keine Ahnung, in welchen Bedingungen Sie gearbeitet haben. Aber Sie sind nicht repräsentativ. Opfer sehen überall nur Täter.» (S. 134–135)
So könnte auch eine weisse Suprematistin auf eine PoC reagieren, die den strukturellen Rassismus im Alltagsleben zur Sprache bringt. Doch der progressive Kosmos-Saal klatschte und die Prostituierte, die es gewagt hatte, Klartext zu sprechen, wurde vom Saal mit solchen Menschenverachtungs-Sprüchen zum Schweigen gebracht. Willkommen in der Hölle des Postfeminismus, den ich in meinem neuen Werk «Siegerfeminismus»™ nenne.
Die Mystifikation von Sexarbeit führt bei den Wohlgesinnten und den Habenden zur philosophischen Überhöhung «käuflicher» Mädchen und Frauen in Literatur, Politik, in Philosophie, in Film und Fernsehen, in revolutionären, linken und linksliberalen Verlautbarungen. Davon profitieren in erster Linie alle Männer: nicht zuletzt die Rechten und die Frauenhasser, die Prostituierte zwecks Erniedrigung aufsuchen und quälen.
Medien und Kultur profitieren vom Nimbus der Kunst der Moderne, als sich diese für die Prostituierten zu interessieren und sie zu malen begann mit dem Zweck, den Unterdrückten dieser Gesellschaft ein Gesicht zu geben. Den zeitgenössischen Sexarbeit-ApologetInnen geht es jedoch nicht um die Sichtbarkeit der unglaublichen Zustände, sondern um den Propagandafeldzug von Habenden, den Elenden dieser Welt auch noch das letzte Loch, über welches sie verfügen können, wegzunehmen. Denn die Narrative über Sexarbeit dienen vorwiegend dazu, die Wirklichkeit zu verschleiern: ein üblicher Trick der Mächtigen, die Verhältnisse so zu behalten, wie sie sind. Wie die Dienstleistung aussieht, davon will niemand berichten, sondern man wendet sich, peinlich berührt, davon ab. Dabei hilft nur die Wirklichkeit weiter: Der eigene Körper, die Körperöffnungen, die Säfte, jeder Millimeter von Haut, Haar und Schleim wird bei der Prostitution gegen Geld zur Verfügung gestellt. Selbstverständlich gibt es Grenzen, die vereinbart werden können, Gesetze, die eingehalten werden sollten, doch wie alle ernst zu nehmenden Schriften und Studien zeigen, werden Grenzen, Gesetze immer überschritten und enden viel zu oft im «Prostituiertenmord». Ein Terminus übrigens, den es nur bei den Prostituierten so gibt, oder haben Sie jemals schon von einem Bäckerinnenmord gehört, wie dies die Autorin des unglaublich spannenden und deprimierenden Buchs «Piff, Paff, Puff», Aline Wüst, dies klug hervorhebt?
Prostitution ist eine Katastrophe für alle Menschen. Prostitution ist auch nicht das älteste Gewerbe der Welt, wie dies die LochverkäuferInnen in Kunst, Medien, Literatur, an der Uni als Fiktion wieder und wieder beschwören. Hetären im alten Griechenland waren keine Huren, sondern sie waren die einzigen Frauen, die Seite an Seite mit den freien Männern in der Öffentlichkeit erscheinen durften. Doch die Wirklichkeit interessiert all jene, die Prostitution für die wahre Berufung von Menschen halten, nicht, obwohl kulturwissenschaftliche Studien der letzten Jahrtausende zeigen, dass «Sexarbeit» immer Hand in Hand mit der Ausbeutung von Mädchen und Frauen in ärmlichen Verhältnissen einherging.
Nur Wohlstandsverwahrloste können sich «Sexarbeit» leisten Ich höre sie schon, die ProstitutionsverteidigerInnen: «Die Frauen werden zu Opfern gemacht!» Wenn in Wahrheit und Wirklichkeit die Handlung an sich als das beschrieben und analysiert wird, was sie ist. Nochmals: Der eigene Körper, dessen Mund, dessen Vulva, dessen Arschloch, dessen Säfte, dessen Augen, dessen Gesicht, dessen Haar für die Stimulation von Fremden gegen Geld zum Benutzen freigegeben werden, diese Vorgänge als ganz normale Dienstleistung zu charakterisieren: Dies können sich nur reiche Charakterlose oder/und ungebildete Proleten, die aber über mehr Status und Kapital verfügen als die jungen «Sexarbeiterinnen», leisten. Es wäre jedem Freier mal zu raten, wochen- und monatelang sein Gesicht, seine Haut, seine Säfte, seine Löcher irgendwelchen Kunden und gegen Bares anzubieten.
In Medien, Literatur, Kunst und Kultur dominiert der Habitus des alten, weissen, reichen Mannes, dessen Verteidigung nun diverse «neue» Feministinnen und Juristinnen für sich aufgenommen haben, «Sexarbeit» als selbstbestimmte «Arbeitsleistung» zu definieren. Wer will denn keinen käuflichen Sex in Verrichtungsboxen? Der Mann wählt, die Frau verrichtet ein Geschäft, das immer mehr auch durch die Praktiken von Gewaltpornos geprägt ist, wie dies auch in «Piff, Paff, Puff» nachzulesen ist.
Prostitution ist das Schmieröl der bürgerlichen, der reichen, der vulgären Gesellschaft, in der zu 99 Prozent Männer ohne Empathie vögeln, schlagen, vor zu bezahlendem Publikum masturbieren, missbrauchen, weinen, kotzen und scheissen können, während ihre Ehefrauen, Freundinnen, Geliebten davon profitieren, dass ihnen dieses urweibliche Schicksal der letzten Jahrtausende auch in der Gegenwart erspart bleibt. Mit Sex hat Prostitution wenig zu tun, dafür alles mit Macht. Wie die Freier wirklich über Prostituierte reden, lesen wir bei Aline Wüst nach. Sie sind unsere Brüder, Geliebten, Freunde, Ehemänner, Kollegen, Söhne etc., die sehr wohl wissen, dass die Frauen, mit denen sie es «treiben», keine Lust dabei haben und trotzdem breitbeinig posaunen: «Ich hab ja schliesslich dafür bezahlt.»
Dass «Sexarbeit» zur Herzensangelegenheit von sogenannten neuen Feministinnen geworden ist, liegt daran, dass jede auch noch so kleine Frauenemanzipation in den letzten 250 Jahren die Fratze eines nihilistischen Sexualzynismus hervorbracht hat. Dieser dient seit Marquis de Sade immer dazu, das Böse, die Misogynie und letztlich den Frauenmord als literarische und philosophische Tugend zu propagieren. Immer dreister erweist sich diese Maske in der heutigen Zeit: Seit Jahrhunderten und besonders in den letzten Jahrzehnten verbinden sich sogenannt «moderne» Geschlechterbilder und ‑definitionen, die nichts anderes sind als der feudale Postmodernismuswein in alten sexistischen Schläuchen mit Gewaltakten gegen Mädchen und Frauen. Reiche, Schöne, Mächtige, kurz die Habenden, behaupten seit Jahrhunderten das Recht für sich, in Blut, Sperma, Sekreten, Urin, Kot und Kotze der Armen baden zu dürfen. Die Philosophen sind brillant darin, dieses ursächliche Vorrecht, das sie immer noch «Aufklärung» nennen, mit ihren GespielInnen (Frauen sind das angepasste Geschlecht) weiterzupropagieren und jede Denkerin, deren Applaus ihnen nicht sicher ist, mit den üblichen Mitteln der Diskriminierung, der Lüge, des Hinterhalts, des Verleumdens, dem Vorwurf der Prüderie zur Strecke zu bringen.
Frauen, die sich dafür einsetzen, dass Mädchen und Frauen nicht vergewaltigt werden oder ihren Körper verkaufen, wobei es ja meist nicht darum geht, den eigenen Körper zu verkaufen, sondern ihn FÜR jemanden auf dem Markt der Freiheiten in der Schweiz und in Deutschland anzubieten, leben gefährlich. Sie werden sofort von KollegInnen fertiggemacht, als Nicht-Feministinnen und Moraltanten gerne via On- und Offline-Narrative mächtiger Männernetzwerke, zu denen die «Siegerfeministinnen»™ Zugang haben, diskreditiert. Recherchieren sie im Untergrund, riskieren sie ihr Leben, denn die Menschenhändler sind perfekt organisiert: Manchmal wünschte man sich, die öffentlichen Infrastrukturen würden so reibungslos punkten wie die Sklavenmärkte für Mädchen und Frauen. Schreiben die mutigen Frauen allen Widerständen zum Trotz über Prostitution, werden sie mit dem Hinweis neunmalkluger Akademikerinnen gerügt, weil sie sich auf Mädchen und Frauen spezialisiert haben, obwohl doch gerade Transmenschen und schwule Männer von der Gewalt in der Szene besonders betroffen seien. Well: Die Zahlen sprechen eine ganz andere Sprache.
Zahlen, die in «Piff Paff Puff» aufgeführt sind. Aline Wüst hat die Herkules-Aufgabe gefasst, über die Prostitution in der Schweiz zu recherchieren. Sie hat dies mit Bravour gemacht. Sie schreibt flüssig, klar, spannend wie in einem Krimi, lässt die Frauen zu Wort kommen und auch die Freier. Die Autorin hält sich extrem von jeder Beurteilung zurück. Ein hervorragendes Buch.
Aline Wüst zeigt auch, wie sich Amnesty International im Jahr 2015 in den Dienst der Freier stellte, als es sich für die Entkriminalisierung der sogenannten «Sexarbeit» einsetzte. Grundlage waren zwei (!) Berichte mittlerweile verurteilter MenschenhändlerInnen. Doch bis heute bleibt der Skandal für Amnesty International leider aus. Wohl nicht zuletzt, weil Sexarbeit ein Milliardengeschäft darstellt. Käme es wirklich zu einem Verbot in den lukrativen Ländern wie Deutschland und der Schweiz, wären einige Leute extrem angepisst. Viel Geld ginge so verloren: Da wäre die Corona-Krise nur noch ein Klacks. Kein Wunder, spriessen Artikel, Filme, Kulturerzeugnisse, Sexartikel, Sexgeschichten, die alle Prostitution verherrlichen, wie Pilze aus dem Boden: Campaigning mit Milliardenbudget ist easy. Die Gruppe von Prostituierten, die alle für das nordische Modell des Verbotes kämpfen, hat kein Geld, keine Lobby, kein Land, keine Kulturgruppen, keine Unterhaltungsindustrie hinter sich. Nun raten Sie mal, wer in diesem ungleichen Wettbewerb gewinnt.
«Kauft! Mich!», schrieb ich schon vor Jahren über die Kampagnenstruktur der «Siegerfeministinnen»™. Denn absurder geht es nicht: Einerseits brachte die #MeToo-Bewegung sexuelle Gewalt endlich auf die Agenda. Doch gleichzeitig inszenierten sich die in den Medien gut verankerten Prostitutionspropagandistinnen; Wahnsinn, nicht wahr? Doch dies hatte die Wirkung, dass jede übergriffige Bemerkung im Alltag äus-serst akribisch aufgelistet wurde, während die Gewaltakte beim verkauften Sex zum Arbeitsalltag hochstilisiert wurden. Events, an denen die Frauen an Hunde- und Halsleinen auf allen vieren mit Lederstrapsen rumgezerrt werden, werden als «kultig» inszeniert und in der «Sternstunde Philosophie» von SRF über den Klee gerühmt. Dort plappern neoliberale Aufziehpuppen über Porno und wie tragisch es doch sei, dass hier immer noch Tabus herrschen würden: So viel öffentlich-rechtlich inszenierten Bullshit muss frau sich zunächst mal leisten können. Porno und Prostitution sind megahip. Sex ist für die herrschende Geldreligion des postmodernen Kapitalismus eine viel zu wertvolle Ressource, als dass er gratis ausgelebt werden darf. Nur so ist es zu erklären, dass der Sex im Alltag, unter ganz normalen Menschen, von den «SiegerfeministInnen»™ kriminalisiert wird, während Sex als Marktprodukt überall teuer und stilgerecht angepriesen wird. Man merke: Missbrauch ist nur dann verwerflich, wenn kein Geld fliesst. Darum geht es in Wirklichkeit bei dem Propagandafeldzug «Sexarbeit». Faszinierend, was der postmoderne Kapitalismus so alles mit Kopf und Körper anstellen kann, nicht wahr?
Aline Wüsts Buch muss ein Bestseller werden. Weshalb? Bücher verändern das Leben. Wüsts Buch liegt das Potenzial inne, sogar die Welt zu verändern. Denn nur wir Menschen können die Menschwerdung anderer Menschen unterstützen, indem wir unsere eigenen Körper und die des/der anderen für unverkäuflich erklären. «Bezahlte Vergewaltigung» nannte es eine Prostituierte im Februar 2020 im Zürcher Kosmos. Womit ich beim Anfang wäre: Nur Wohlstandsverwahrloste schwärmen von «Sexarbeit», die nicht den Sex, sondern das eigene Fleisch verkauft. Deshalb wäre der Begriff «Menschenfleischarbeit» der korrekte Terminus für Prostitution.
Aline Wüst, Piff, Paff, Puff.
Prostitution in der Schweiz.
Echtzeit-Verlag 2020.
ISBN 978–3‑906807–17‑1