Von Dr. Regula Stämpfli - Unter dem Deckmantel der Libertinage wird für alle Formen sexueller Gewalt gerne Partei ergriffen. Im Nachhinein klingen die Beteuerungen immer gleich: «Damals, in unseren Kreisen, dachte sich niemand auch nur irgendetwas, Sex mit Minderjährigen war doch völlig normal.» Es geht um eine sogenannt gute Familie, eine sehr gute sogar, beschrieben in Camille Kouchners «La familia grande». Und es geht um Olivier Duhamel, der den Zwillingsbruder von Camille, damals 13-jährig, jahrelang vergewaltigt hat. Olivier Duhamel und sein Clan bilden die Pariser Elite. Er gehörte bis zum Erscheinen des Buches zu den mächtigsten Männern Frankreichs: 2016 noch wurde er als 65-Jähriger zum Verwaltungsdirektor der Eliteuni Sciences Po gewählt. Wir finden im Buch nicht nur die üblichen französischen Eliteverdächtigen, sondern auch die klassischen Rechtfertigungen, die auch heute noch in intellektuellen Kreisen gerne diskutiert werden. Sex sei doch natürlich, Sex kaufen und verkaufen völlig normal, Sex solle überall stattfinden, über alle Grenzen, Geschlechter und Altersbarrieren hinweg: Sexpositiv sei alles, was Menschen freiwillig machen. Sie sind zwar erst elfjährig? Ach, die Erotik kenne eben kein Alter, die Kirche habe die Menschen diesbezüglich jahrhundertelang unterdrückt, endlich würden wir in einer Zeit der Antiprüderie leben und die Menschen befreit ihre Erotik ausleben können.
Es klingt immer gleich, nicht wahr? Die zeitgenössische Porno- und Hurenlobby klingt ganz ähnlich: Prostituierte seien doch keine Opfer, sie böten Dienstleistungen an, die wie ganz normale Arbeit zu betrachten seien. Ist sie nicht, und die Geschichte um Camille Kouchner zeigt: Die Narrative über Sexarbeit heute sind die Narrative über Kinder- und Teenagervergewaltigung von damals.
Heute heisst es: Es sei doch prüde und unfeministisch, anderen Frauen nicht erlauben zu wollen, dass sie all ihre Löcher, ihre Haare, ihre Säfte, ihren Körper für den ordnungsgemässen und vertraglich vereinbarten Sex zur Verfügung stellen. Damals hiess es: Teenager hätten ein Recht auf sexuelle Erfahrungen mit Älteren, es gebe doch nichts Aufregenderes, als als 13-Jähriger einem 50-Jährigen einen zu blasen.
Well, punkto Kindervergewaltigung scheint nun endlich der schönfärberische Erzählkonsens der Libertinage, Freiheit und Normalität gebrochen zu sein. In ein paar Jahrzehnten wird das wohl hoffentlich auch mit der sogenannten Sexarbeit passieren.
Siegerintellektuelle nenne ich die Prominenten, denen es mit grossen Ausflüchten, Ausreden, sophistischen Argumenten und medienaffiner Inszenierung gelingt, selbst den fürchterlichsten Verbrechen Sinn zu verleihen. Sie alle verniedlichten Kinderfolter als «Pädophilie», ganz so, wie einige prominente Feministinnen heutzutage Genitalverstümmelung mit «weibliche Beschneidung» schönreden. Beide Gruppen, die Kinderficker und die Post-Feministinnen sind grossartig darin, unmenschliche Praktiken zu verharmlosen, ja als völlig «normal» zu charakterisieren. Damals hiess es «sexuelle Befreiung», heute «Sexarbeit». 1977 unterzeichnete Bernard Kouchner mit sechzig anderen Intellektuellen, darunter Deleuze, Sartre und Beauvoir, den Appell zur Entkriminalisierung der Kindervergewaltigung, die damals wie heute unter dem euphemistischen Begriff «Pädophilie» läuft. Gabriel Matzneff, der Folterer von Vanessa Springora, deren ausserordentlicher Roman wir hier schon besprochen haben, war der Initiant dieses üblen Pamphlets.
Die Geschichte wiederholt sich nie, aber die Facetten der Farce sind sich schon erstaunlich ähnlich.
Der Habitus, sich als Kindervergewaltiger weiterhin der eigenen Karriere zu erfreuen, ist nun endlich vorbei. Der Hashtag #MeTooInceste und die Romane von Springora und Kouchner machen es möglich. Camille Kouchner hat das Schweigen gebrochen und sie redet Klartext: Es geht um Inzest. Die Opfer waren sieben, acht, neun Jahre alt, zehn‑, elf‑, 13‑, 14-jährig, Kinder allesamt, die von Stiefvätern, Vätern, Brüdern, Onkeln, Cousins vergewaltigt wurden. Bei Camille Kouchner war es der Stiefvater, der ihrem Bruder jahrelang sexuell Gewalt antat. Olivier Duhamel, der grosse Intellektuelle, Professor, Verwaltungsdirektor des Institut d’Études Politique de Paris, DER Kaderschmiede Frankreichs, verklärte seine sexuelle Folter ohne jegliches Schuldgefühl als Ausdruck hedonistischer französischer Kultur. «Es kam ja nicht zur Sodomie», meinte die Mutter von Camille Kouchner, die zu Olivier Duhamel hielt, sie wird sich wohl gedacht haben, dass sie damit dem Schicksal von Valérie Trierweiler entfliehen könne, wer will denn schon den sozialen Tod? Trierweiler wurde, nachdem sie die «gauche caviar» rund um François Hollande entlarvt hatte, von Presse, Hautevolee, Universitäten und der gesamten französischen Gesellschaft lächerlich gemacht und gemieden – bis heute. Évelyne Pisier hiess die Mutter, die ihren Sohn seinem Peiniger, ihrem zweiten Ehemann, überliess respektive diesen im Nachhinein entschuldigte. Eine klassische Frauengeschichte, tragische Figur mit ätzender Anpassungsrhetorik: Feministin, Dr. in Science Po, erste Hochschulprofessorin für öffentliches Recht in Frankreich, eine linke Frauenikone mit Patchworkfamilie; in zweiter Ehe mit Olivier Duhamel zusammen sechs Kinder, die von einer grossartigen Kindheit schwärmen. Eine begabte Frau, von der aber Wikipedia Deutschland keinen wirklichen Beruf anzugeben weiss. Auch ihre Figur erinnert an Zeitgenossinnen, die unter dem Etikett «Feministin» die grössten Verstümmelungen an Frauen als «selbst gewählt» legitimieren. Eine Art Frau, die von den hippen, intellektuellen Männerzirkeln gerne hofiert wird, da diese davon profitieren, die echten Demokratinnen mithilfe dieser Anpasserfrauen zum Schweigen zu bringen. Die Menschwerdung der Frau wird im Patriarchat gerne mithilfe von Mittäterinnen blockiert: Nichts ist einfacher, als medial den «Zickenkrieg» auszurufen, so wie es der Autorin dieser Zeilen vor Jahren selber geschehen ist, als sie darauf hinwies, dass «Sexarbeit» nichts anderes ist als das passende ideologische Wort für die legitimierte Vernichtung und den Ausverkauf des Frauenkörpers. Nur Wohlstandsverwahrloste schwärmen vom gekauften Sex. Nur amoralische und seelisch verrottete Männer vergewaltigen 13-jährige Kinder.
Die Tochter dieser «Collaboratrice» Évelyne Pisier, die jetzt 45-jährige Camille Kouchner, ist nun ausgebrochen aus diesem grössten aller Machtzirkel, denn Olivier Duhamel war das Herz von «Le Siècle»: Bei den Soirées traf sich Frankreichs Elite, oder wie Martina Meister für die «Welt» schreibt: «Hier traf sich eine Art Gourmet-Spielart der Freimaurerloge.» Gewerkschaftsbosse, Literaten, Richter, Journalisten, Fernsehstars, sie alle waren im Kreis rund um Olivier Duhamel. Camille Kouchner schöpfte die Kraft für den Roman nur dank Vanessa Springora. Diese hatte vor genau einem Jahr davon berichtet, wie sie jahrelang vom Schriftsteller Gabriel Matzneff vergewaltigt wurde – beginnend mit dem 14. Lebensjahr, Matzneff war 50. Wie Springora schreibt Kouchner keine Autobiografie, sondern einfach einen umwerfend guten Roman, der innert Tagen ausverkauft war: «La familia grande».
Das Buch erzählt von einer privilegierten Jugend: Die wunderbaren Sommer an der Côte d’Azur sind bei vielen reichen und mittelständischen französischen Familien durchaus üblich. Die Atmosphäre ist locker, alle reden mit allen, Generationen sind nicht getrennt, sondern finden sich zu Themen wie Politik, Bücher und Philosophie zusammen. In dieser aufgeladenen, von revolutionären Ideen beflügelten Amoral wird dem 13-jährigen Antoine Nacht um Nacht von seinem Stiefvater Olivier Duhamel sexuelle Gewalt angetan. Seiner Schwester soll Antoine gesagt haben: «Du wirst sehen, sie werden mir glauben, aber es ist ihnen vollkommen egal.» Auch dies erinnert an die Zeitgeschichte, die von Intellektuellen besetzt wird, die zwar die sexuelle Gewalt im Milieu kennen, doch sich gleichzeitig keine Bohne darum scheren. Camille Kouchner erzählt auch davon, dass es innerfamiliär im Jahr 2008 zum Eklat kam und der Clan sofort die Reihen schloss. Das Geheimnis sollte gewahrt werden. Weshalb der Rechten die Gelegenheit geben, das zu bestätigen, was sie über die Kaviarlinke eh immer gemunkelt hat?
Der leibliche Vater Bernard Kouchner soll seit 2011 von der sexuellen Gewalt an seinem Sohn Antoine gewusst haben, sah jedoch davon ab, gegen den prominenten Verfassungsrechtler und Linkspolitiker Olivier Duhamel etwas zu unternehmen. Inzwischen sind nicht Duhamel, sondern Alain Finkielkraut, Élisabeth Guigou, Marc Guillaume von ihren lukrativen Polit- und Medienposten zurückgetreten. Emmanuel Macron rühmt, dass die Omertà endlich gebrochen worden sei, und fordert legislative Änderungen.
Camille Kouchner sagt zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches: «Ich habe bis jetzt nicht geschwiegen, weil ich bekannte Eltern hatte. Ich habe geschwiegen wegen des Inzests.» Ihr Buch liest sich trotzdem wie die Partys von Intellektuellen, die Kinder zwecks sexueller Ausbeutung,untereinander regelrecht austauschen. Das Buch ist eindrücklich darin, wie brutal es für Inzestopfer ist, endlich zu reden. Denn es steht immer die Familie auf dem Spiel.
Der Hashtag #MeTooInceste dokumentiert nun Tausende von Fällen von sexueller Gewalt an Kindern. Die Abgeordnete Clémentine Autain schreibt dazu: «Jedes Zeugnis reisst die Mauer des Schweigens ein. Um das Tabu zu beenden, muss man den Opfern erlauben, aus der Scham, der Angst, der Straflosigkeit hervorzukommen.» Die französische Elite, schon mehrmals literarisch demaskiert in den wunderbaren Romanen von Annie Ernaux, Didier Eribon und Édouard Louis, wird nun hoffentlich endgültig gebrochen. Es ist Zeit für andere Generationen mit klarer Urteilskraft. Ja. Frankreichs Elite sonnte sich jahrzehntelang in der Kultur sexueller Gewalt, die künstlerisch verbrämt, perfekt legitimiert und propagiert werden konnte. Dass diese monströse Legitimationspraxis jetzt zusammenbricht, ist das Resultat der digitalen Revolution und von so grossen Romanen wie denjenigen von Vanessa Springora und Camille Kouchner.
Erlauben Sie mir hier ein Nachwort zur deutschsprachigen Situation: Hier gibt es keine intellektuelle Poetisierung von Frauenhass und Kindervergewaltigung, sondern lediglich zynischer Materialismus, der alle schockierend bekannt gewordenen Fälle von Vergewaltigung, Folter und Verletzung von Menschen lakonisch und philosophisch in Kategorien des «Bösen in jedem Menschen» abhandelt. Es gibt keine Poesie der Verantwortung, sondern die klassisch deutsche Unterwerfungsprosa der kollektiven Schuld, die keinerlei persönliche Geschichte der Opfer, sondern nur eine grauenhafte Faszination am Täter manifestiert. Deshalb treten seit Jahren auch keine deutschen Politiker mehr zurück, egal, welche Skandale, Korruption oder Misswirtschaft sie sich geleistet haben. Es gibt in Deutschland keine «J’accuse»-Positionen, die für die Fragilen eintreten würden. Die Bücher eines Ferdinand von Schirach zeugen von einer derartigen Haltung. Sie sind abgrundtief verabscheuungswürdige Täteroptiken, die davon ausgehen, dass aus jedem Lebewesen ein Folterer werden könnte, wenn nur die Umstände entsprechend wären. Falsch. Dies ist das wahrhaft Böse, wie wir seit Hannah Arendt wissen: Denn wer aufgibt, von erwachsenen Menschen Erwachsenheit und Urteilskraft zu erwarten, entschuldigt die wirklichen Täter. Denn wo alle schuld sind, ist keiner mehr verantwortlich.
Camille Kouchners Buch als «weiteren Skandal», wie dies die dümmliche TAZ formuliert, abzutun, ist kreuzfalsch. Die fabelhafte Martina Meister brachte dies schon am 16. Januar 2021 für die «Welt» auf den Punkt: «Wie die MeToo-Bewegung und wie das Buch von Springora markiert auch diese Anklageschrift das Ende der Omertà, es markiert eine gesellschaftliche Zäsur, hinter die es kein Zurück mehr gibt.»
Camille Kouchner, La familia grande, Éditions du Seuil, 2021