Von Peter J. Betts — Metz steht in Frankreich, so habe ich heute, einen Tag vor Auffahrt, in den «KulturNachrichten» im Radio gehört, nicht eigentlich prestigemässig hoch im Kurs: eine als eher langweilig geltende einstige Garnisonsstadt in Lothringen, die – dem guten Ruf in Frankreich auch nicht wirklich zuträglich – einst zum Deutschen Reich gehörte. Nun, das neue «Centre Pompidou» in Metz wird von Politgurken jedweder Provenienz jetzt bei der Eröffnung in allerhöchsten Tönen gelobt: «Nun wird sich alles, a‑ha-ha-halles weh-enden!» Man erhofft sich den «Bilbao-Effekt» im Département Moselle… Hat nicht Gottfried Keller «Kleider machen Leute» geschrieben? Die Politik jeglicher Couleur an Rednerpulten und vor laufenden Kameras (findet sie auch in der Realität statt?) ist von der Einsicht erfüllt, dass «Kultur», wenn in hinreichend pompöser Verpackung dargebracht, bei den Kämpfen um Standortvorteile matchentscheidend sei: in ununterbrochenen Springfluten werden Touristinnen und Touristen, Architekturgläubige zu Abertausenden und über Jahrzehnte hinweg herangeschwemmt werden; nachhaltig konsumieren, übernachten, kaufen, Skandälchen liefern, beleben. Und der alte Bischofsitz, die Kathedrale, die alte Befestigungsanlage, das Deutsche Tor etwa aus dem vierzehnten Jahrhundert, werden in neuerkannter Bedeutsamkeit erstrahlen. Die angestrebte Anerkennung der Stadt als Kulturerbe wird kaum mehr hinausgezögert werden können. Bilbao-Effekt. Ich erinnere mich an einen NZZ-Artikel vom 19. April ’10: «Bilbao war gestern», titelt Brigitte Kramer, und im Untertitel steht: «Immer mehr Spanier haben genug von der effekthascherischen und sündhaft teuren Stararchitektur.» Haben Sie deshalb jetzt nicht Lust darauf, Spanier zu sein? Eingangs des Artikels ein dreispaltiges Foto in Blau‑, Gelb‑, und Brauntönen; darunter die Legende: «Wie ein gestrandeter Walfisch – der 7 000 Tonnen schwere, zwischen Flussübergang und Haus oszillierende Brückenpavillon, den Zaha Hadid für die Expo 2008 in Zaragoza konzipierte, kostete statt der ursprünglich veranschlagten 20 Millionen Euro stolze 8o Millionen Euro.» Frau Hadid hatte sich offenbar nicht um die geologische Beschaffenheit des Untergrundes gekümmert. «…Im matschigen Flussbett mussten die Ingenieure 70 Meter tief in die Erde bohren, um das neue Symbol der Stadt sicher zu verankern…». Das Zusammenfügen der beiden ungleichen Brückenteile über dem Ebro war unvorhergesehen zeitaufwändig. Die Baukosten vervierfachten sich. Seit Ende Expo 2008 ist der Pavillon ungenutzt. (Sie erinnern sich: Es war in Bern bis zum erneuten Überprüfen der Statik von erbauten Strukturen beim «Zentrum Paul Klee» vorgesehen, die künstlichen Hügel zu begrünen. Nun haben wir Blechwellen. Auch schön. Lieber glänzendes Blech als zusammengestürzter Prestigebau. Ist, wie aus Politkreisen verlautet, durchaus tauglich als «Leuchtturm der kleinen Bundeshauptstadt».) Das hier eingeschobene Zitat von Franz Müntefering scheint mir in diesem Kontext nicht unangebracht: «Ich habe nie geglaubt, dass alles immer besser wird. Aber, dass alles anders wird, das ist gewiss. Uns bleibt nur, die sich wandelnde Gesellschaft so menschlich wie möglich zu gestalten. Das kann man besser oder schlechter machen – allein um diese Spanne geht es.» (Aus NZZ Folio, Mai 2010): Das gilt auch für das folgenschwere Prestigedenken im Städtewettbewerb, für den uneingeschränkten Glauben an das unbeschränkte Wachstum, an das Geld als einzig übrig gebliebenen Wert auf dieser Erde, als einzigen Sinn menschlichen (menschlichen?) Tuns. Brigitte Kramer zitiert einen der einflussreichsten Architekturkritiker in Spanien, Llàtzer Moix, der die Entwicklung analysiert: Die Verschwendungssucht der Auftraggeber (natürlich aus der ehrgeizigen Politkaste) sei auf die Eitelkeit der Baukünstler gestossen, die sich oft zehn bis zwanzig Prozent der Gesamtkosten als Honorar erhandelt hätten. «Statt ihre zweifellos grosse Kreativität und ihre Kraft zur Erneuerung in den Dienst der Gesellschaft zu stellen…». «Viagra-Städtebau» als Gestaltungsprinzip. Ich denke, auch hier liesse sich das Müntefering-Zitat einbauen. Frau Kramer zählt einige der auf die Schilder gehobenen Stararchitekten, Helden des «sündhaft teuren Formalismus», auf: Norman Foster, Frank Gehry, Zaha Hadid, Jean Nouvel, Richard Rogers. Renzo Piano hat sie nicht erwähnt, aber in ihrem Artikel geht es ja um Spanien. Es ist empfehlenswert, Frau Kramers Artikel und ihre Aussagen darin pars pro toto zu lesen. Nun, der formalistische und funktionale Pomp der Vorzeigearchitektur ist zweifellos widerlich. Aber er ist von uns unterstützt, gutgeheissen, bewundert worden. Gut, da waren die atonalen Schalmeienklänge aus der Politkaste. Aber wir haben zu diesen jämmerlichen Konzerten geklatscht. «Die Show um den architektonischen Markenkult ist Teil unserer Kultur geworden», und das könne «Störungen verursachen» – so zitiert Frau Kramer eine vielleicht im Trend (?) liegende, der Umkehr/Neuorientierung des Modebewusstseins entsprechende Aussage von Frank Gehry, «dessen 1997 eröffnetes Guggenheim-Museum in Bilbao wie kein anderes Bauwerk den Boom angeheizt hat». Markenkult – Teil unserer heutigen «Kultur». Lesen Sie in einer beliebigen Nummer der «NZZ am Sonntag» den Teil «Stil». Wenn Sie glauben, einen einzigen realitätsbezogenen Abschnitt gefunden zu haben, empfehle ich Ihnen die erneute Lektüre dieses Abschnittes. Blättern Sie «Ideales Heim» durch. Ist Ihnen aufgefallen, dass nicht etwa Kritiken Werke zeitgenössischer bildender Künstlerinnen und Künstler wertvoll machen, sondern die horrenden Preise, mit denen sie gehandelt werden? Und wer spricht fünf Jahre später noch von diesem Künstler? Wer kann sich an den Namen der grossen Künstlerin erinnern? Vielleicht jene Person, die das Bild ursprünglich zum Megapreis angekauft hat, das Bild nun nicht mehr los wird, und es noch nie hat ansehen mögen. Der Wert des Werkes lag im angeschriebenen Preis. Die Käuferin hatte durch den Kauf bewiesen, dass sie über genügend Substanz verfügte, das Ding zu kaufen. Und da sagt Müntefering: «…Uns bleibt nur, die sich wandelnde Gesellschaft so menschlich wie möglich zu gestalten. Das kann man besser oder schlechter machen – allein um diese Spanne geht es.» So menschlich wie möglich? Und Brecht lässt Peachum singen: «.…Und doch, dein Kind, das an dir hangt / Wenn dir das Altersbrot nicht langt / Tritt es dir eben ins Gesicht. / Ja, menschlich sein, wer wollt es nicht!…». Frau Kramer spendet auch ein paar tröstliche Gedanken: «… Als Nebeneffekt von Spaniens Baukrise kündigt sich nun ein Paradigmenwechsel in der Architektur an.» Oder, wenn sie den 65-jährigen Katalanen Carlos Ferrater zitiert: «Die Architektur ist eine dauerhafte Erscheinung. Wenn sie auf kurzlebigen Moden oder auf Showeffekten basiert, wird sie widersprüchlich.». Auch wenn sie darauf hinweist, dass sich, als Nebeneffekt der spanischen – geldwirtschaftlich bedingten – Baukrise, die Architektur nun vom Kult des Formalismus hin zur nachhaltigen Funktionalität durch noch kaum bekannte Erneuerer, oder zurück zur etablierten Solidität altbewährter Architekten bewegenen könnte. Und wenn sie über ein preisgekröntes, (noch) nicht ausgeführtes Wettbewerbs-SiegesProjekt von Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa (Büro Sanaa), die Erweiterung des «Museums für zeitgenössische Kunst» in Valenzia schreibt: «Der von isolierten Starbauten geprägten Stadt würde die anschmiegsame Leichtigkeit der Architektur von Sanaa gut tun. Gerade wegen ihrer baulichen Ehrlichkeit, die sich der <erdrückenden Architektur der Rhetorik> entgegensetzt, wurden Sejima und Nishizawa von der Pritzker-Jury geehrt». Ob eine solche Wandlung auch anderswo bezüglich gesellschaftsrelevanter Werte und Kreativität Folgen zeitigen könnte? Übrigens: Metz war meiner Ansicht nach durchaus schon immer eine Reise Wert – auch ohne neues «Centre Pompidou».
Foto: zVg.
ensuite, August 2010