Von Jarom Radzik — Ein Essay mit Fortsetzung 2. Folge: In der zweiten Folge von «Mit Kunst lieben lernen» befassen wir uns mit der Frage, warum es auch in der Beziehungskonstellation zwischen Künstler und Kunstwerk zu Beziehungsstress und Reibereien kommt. Die Betrachtung menschlicher Beziehungs-Schlachtfelder bietet erstaunliche Einsichten und lässt uns verstehen, warum auch Künstler und ihre Kunstwerke zutiefst menschlich sind.
«Und sie lebten für immer glücklich und zufrieden miteinander». Sicher haben Sie diesen Satz so oder ähnlich auch schon gehört. Im ersten Moment erscheint er doch auch ganz harmlos, nicht? Aber blicken Sie noch einmal genauer hin: Miteinander, für immer glücklich und zufrieden. Kennen Sie ein Paar, das immer glücklich und zufrieden war oder ist?
Standesgericht – oder wie kleine Fehler alles verändern — Als Erfinder des Begriffes «Standesgericht» könnte ich die Vermutung gelten lassen, dass dem Autor des «immer und ewig glücklich»-Satzes wie mir ein Tippfehler unterlaufen ist, einfach in einem etwas grösseren Umfang. So wurde in meinem letzten Beitrag aus dem Standgericht das Standesgericht, das gar nicht hätte ständisch sein sollen. Vielleicht ging es dem Erfinder des Satzes «Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage» genauso. Vielleicht wollte er ja einfach nur sagen: «Und glücklicherweise lebten sie miteinander bis ans Ende ihrer Tage.»
Warum wir alle Versager sind Wurde der Satz aber mit voller Absicht geschrieben, hat der Autor eine Aussage geschaffen, die seine Leser in den Grundfesten ihrer Überzeugung zu erschüttern vermag. Bei Goldeseln, gestiefelten Katern oder dümmlichen Hexen können wir mit Sicherheit davon ausgehen, dass sie nur Gebilde unserer Fantasie sind. Bei Glück und Zufriedenheit wird es schwieriger. Alle wollen wir glücklich und zufrieden sein. Deshalb sind wir beim Satz «Und sie lebten für immer glücklich und zufrieden miteinander» ruhig, auch wenn uns die Aussage ziemlich unmöglich erscheint. Denn wir möchten glücklich und zufrieden sein – sogar miteinander. Aber das Killerwort «immer» tötet selbst den hartgesottensten Beziehungsstressverdränger. Nehmen wir diesen Satz ernst, müssen wir uns eingestehen, dass wir einfach Versager sind.
Epische Beziehungsschlacht Ein Blick auf unsere Beziehungen zeigt uns: Beziehungsglück ist kein Zufallsprodukt, sondern das Ergebnis eines intensiven Auseinandersetzungsprozesses. Ich bin seit zehn Jahren verheiratet und fahre tagtäglich auf einer Achterbahnfahrt der Gefühle. Immer wieder entstehen neue Dynamiken und immer, wenn ich glaube, es könnte nicht besser oder schlechter gehen, geht es trotzdem in die eine oder andere Richtung. Und jeder, der ebenfalls in einer Beziehung steht, weiss: Es handelt sich dabei nicht um postmoderne Kuschelpartys, sondern um epische Schlachten. Gerade längere Beziehungen existieren nur, weil alle Beteiligten sehr viel in sie investiert haben. Und mitnichten könnte ich dabei von einem sich einstellenden Alltagstrott sprechen, denn selbst jetzt erlebe ich noch genauso Phasen der Annäherung, Abgrenzung und Neuorientierung. Das ist zumindest für alle, die Action mögen, eine freudige Botschaft: Beziehung ist eine ständige Bewegung. Und nicht nur in sexueller Hinsicht reiben sich jene, die in einer Beziehung stehen, tagtäglich aneinander.
Beziehungsstress Kunst Aufhorchen lässt die Tatsache, dass auch Vollblut-Künstler Beziehungsstress mit ihrer Kunst kennen. Wie oft habe ich gesehen, dass Künstler aus Wut ihre werdenden Kunstwerke zerschmettert haben. Oder dass sie in eine Art Liebeskummer verfallen, wenn Muse sich gar nicht viel Zeit mit dem Küssen lässt. Oder wie Künstler vor Glück in eine fast schon lebensgefährliche Euphorie verfallen. Der Stress in diesen Beziehungen ist gross. So gross, dass man sich sogar die Frage stellen muss, warum sie sich das eigentlich antun. Andererseits ist es befriedigend zu hören, dass auch ihre Beziehungen Kraft und Anstrengung erfordern. Denn Kunst entsteht nicht von selbst. Vielmehr muss jede Idee und jedes Objekt der Masse der Gedanken und Materie abgerungen werden. Darum ist auch Kunst eine Beziehungsarbeit, ein Kraftakt, ein Prozess der Annäherung, der Abgrenzung und Neuorientierung zu sich selbst und dem, was dazu dient, der Idee Gestalt zu geben. Im Prozess der Begegnung mit dem werdenden Kunstwerk, werden auch die Grenzen des Kunstschaffenden mehr als ausgereizt. Eine gegenseitige Herausforderung, denn die Materie bockt, widersteht, verändert sich nur auf seine Einwirkung hin und zeigt gleichzeitig dem Künstler mehr als deutlich seine eigenen Grenzen auf. Die Materie macht nicht einfach alles mit, was er sich ausgedacht hat, auch sie hat ihre Bedingungen, ihre Eigenschaften, und setzt ihm diese entgegen. Also Beziehungsstress pur, denn wie in der Liebesbeziehung stehen sich hier zwei Parteien gegenüber, die in der Begegnung all zu oft an die Grenzen ihrer Ausdrucksfähigkeit stossen.
Da, wo es am meisten weh tut Weil auch in der Kunst die Erwartungen oft das Mögliche übersteigen, ist es ganz normal, dass in Bezug auf das Gegenüber Erwartungen aufgebaut und angestaut werden, die keine Entsprechung finden, beziehungsweise auf ihre Erfüllung warten. Und sowohl den Partnern in einer Liebesbeziehung wie auch den Künstlern sind oft alle Mittel recht, um von ihrem Gegenüber ihre Bedürfnisse einzufordern. Nehmen wir der ganzen Sache noch den letzten Anstrich schöner Glückseligkeit: In den Beziehungen der Liebe wie auch der Kunst stehen sich Parteien Gegenüber, denen es um nicht mehr als um das Eigene geht. Eine besondere Situation: Durch mehr oder weniger freiwillige Nähe ist man einander auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Und darum wird auch ohne Zögern das Wissen über den anderen dazu eingesetzt, ihn in Bewegung zu versetzen, und im Interesse beider zu handeln. Darum scheut der Künstler nicht davor zurück, das werdende Kunstwerk mit allen Mitteln in seine angedachte Form zu bewegen, und gleichzeitig offenbart das Werdende alle Handlungen, die an ihm vorgenommen wurden. Und wenn Mimi ihren Max wieder einmal aussperrt, weil Feuer unter dem Dach ausgebrochen ist, schüttet Max sein Leid auch all seinen Freunden aus. In diesem Sinne sind sich Partner in einer Liebesbeziehung immer die schärfsten Kritiker.
Erst die Reibung bringt das Leben Indem man gegenseitig an Grenzen stösst – an die eigenen oder die des anderen – eröffnen sich neue Möglichkeiten. Denn dort, wo Wille und Widerstand aufeinander treffen, entsteht Veränderung, wird Entwicklung überhaupt erst möglich. Dabei lernen alle Beteiligten eine eigene Art und Weise des Umgangs, eine eigene Herangehensweise. Auch das werdende Kunstwerk, denn es ist nachtragend und vergisst auch nicht die kleinste Geste. Darum ist die Arbeit des Künstlers wie die Beziehungsarbeit in einer Liebesbeziehung eine Auseinandersetzung, die mit viel Reibung verbunden ist. Die Formung von Material fordert wie die Partnerschaft, dass daran gearbeitet wird.
Dem anderen begegnen oder ein Werk schaffen ist nicht primär eine Auseinandersetzung mit sich selbst, sondern eine Auseinandersetzung mit dem Gegenüber, dem man begegnen möchte. In dieser Aussage mag viel Zündstoff liegen, grenzt sie doch gerade die Kunst gegen die Idee ab. Aber genau darin liegt die Grenze zwischen Idee und Innovation: Eine Idee wird erst dann zur Innovation, wenn sie tatsächlich als Objekt Gestalt annimmt, nämlich die Gestalt, mit der ein Künstler begegnet und eine Beziehung aufbaut. Darum kann es nicht sein, dass eine blosse Idee Kunstwerk ist. Weder ersetzt die Fiktion die Realität, noch mag sie ihr gleichkommen. Denn zu einer Idee gibt es keine Entsprechung, sie bleibt für sich gesehen perfekt und unerreichbar. Das tatsächliche Gegenüber dagegen ist verletzlich und fehlerhaft, so wie wir selbst.
Gnadenlose Wahrheit im anderen Vermag der Künstler das werdende Kunstwerk nicht gehörig zu behandeln, zeugt es gnadenlos gegen ihn. Und ist die Materie den Anforderungen des Künstlers nicht gewachsen, ist er der erste, der sich ohne mit der Wimper zu zucken von ihr abwendet. Durch ihre intensive Auseinandersetzung kennen sich beide Seiten äusserst gut. Kennen alles Vorteilhafte genauso wie das, was besser verschwiegen werden sollte. Und nicht wenige selbstkritische Künstler verstecken deshalb nicht ohne Scham die Missgeburten, die aus dieser Beziehung hervorgegangen sind genauso, wie viele die Macken ihrer Partner am liebsten in die Besenkammer sperren möchten. Egal ob Farbe, Material, Charakter oder Fähigkeiten, immer gibt es Besonderheiten oder eben Schwachstellen, die in der Begegnung mit dem Gegenüber offenbart werden. Und sei es nur, dass der Künstler einmal mehr erkennen muss, dass hier keine Begegnung stattfindet, in der er mit dem Material jene Form zu erzeugen vermag, die seinem Ausdruck auch tatsächlich entspricht. Entweder, weil er selbst nicht dazu imstande ist, oder aber, weil das Material in dieser Beziehung Grenzen kennt. Denn als Partner in einer Liebesbeziehung oder als Künstler und werdendes Kunstwerk wird man immer wieder durch sein Gegenüber in Frage gestellt.
In Beziehungen von Künstlern und ihrer Kunst und Liebenden gibt es kein Pardon. Alles, was eine Seite tut, wird von der anderen registriert und gespiegelt. Hat der Künstler wieder einmal bei der Ausführung eines Werkes geschwächelt, zeugt das Fehlerhafte gegen ihn. Das Verhalten des Partners wirft sein Licht immer auch auf den, der neben ihm steht. Das führt dazu, dass in Beziehungen immer genau beobachtet wird, was der andere tut und lässt. Denn der andere soll nicht zum Grund werden, warum man selbst scheitert.
Fazit und Ausblick Trotz oder gerade wegen dem enormen Kraftaufwand, den eine Liebesbeziehung oder die Beziehung zwischen Künstler und Kunstwerk erfordert, der scharfen Kritik und der gnadenlosen Wahrheit, die dadurch offenbar wird, kann dieser Reibungsprozess sehr erspriesslich sein. Hier können sich Charakter und Form aller Beteiligten in einer Art und Weise entfalten, wie dies sonst nicht möglich wäre. Zum einen resultiert dies in Reife und Ausgewogenheit, zum anderen auch in einer Eigenständigkeit und Kraft, wie dies in keiner anderen Konstellation möglich wäre. Doch wohin führt uns das alles? Was genug Reibung erfährt, fängt bekanntlich Feuer. Lassen Sie sich also überraschen, wie heiss eine Beziehung zwischen einem Künstler und einem Kunstwerk werden kann.
Foto: zVg.
ensuite, Dezember 2010