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Mit der Kunst lieben lernen

Von Jarom Radzik — Ein Essay mit Fort­set­zung, 3. Folge, Finale: In der drit­ten und let­zten Folge von «Mit Kun­st lieben ler­nen» wen­den wir uns noch ein­mal einem wichti­gen Aspekt des Kun­stschaf­fens zu: Dem eigentlichen Beziehungsmo­tor und besten Indika­tor dafür, ob über­haupt von ein­er lebendi­gen Beziehung gesprochen wer­den kann. Ein­sicht­en aus Kun­st und Psy­cholo­gie.

Wahrschein­lich ken­nen Sie die Frage: «Warum hast du dieses Bilder immer noch bei dir hän­gen?» Und, wie haben Sie darauf geant­wortet? Haben Sie sich und ihrem Gegenüber ver­legen die Macht der Gewohn­theit eingeräumt? Oder haben Sie ihm und sich selb­st gegenüber fest­gestellt, dass dieses Kunst­werk für Sie immer noch genau so aktuell und aufre­gend ist, wie es damals war, als Sie es erwor­ben haben? Kunst­werke kom­men nicht aus der Mode. Was Sie damals daran fasziniert hat, ist noch genau­so da, wie der Teil in Ihnen, der darauf geant­wortet hat. Vielle­icht ist er ver­schüt­tet, weil Sie ihn, aus welchen Grün­den auch immer, nicht weit­er gepflegt haben. Das Kunst­werk antwortete auf diesen Teil Ihrer Per­sön­lichkeit, auch wenn Sie sich dann nicht mehr damit auseinan­der geset­zt haben. Oder glauben Sie etwa, dass Ihre Per­sön­lichkeit oder Kun­st ein Ver­falls­da­tum haben? Beziehun­gen sind wie ein Wech­sel­spiel. Diesen Satz lesen Sie nicht zum ersten Mal bei mir. Das Wech­sel­spiel ist die unbe­d­ingte Voraus­set­zung dafür, dass der Motor ein­er Beziehung läuft. Hierin ent­fal­tet sich das Poten­tial ein­er Beziehung. Und was wäre, wenn Kun­st nicht mehr in diesem Wech­sel­spiel entste­hen würde? Am Besten urteilen Sie selb­st darüber, sobald Sie meine Aus­führun­gen dazu gele­sen haben.

Verän­derung im Wer­den Die Arbeit eines Kün­stlers entwick­elt sich organ­isch. Chro­nol­o­gisch lassen sich seine Kunst­werke einzel­nen Epochen zuord­nen. Sie entwick­eln sich jew­eils auf einen Höhep­unkt hin, um dann wieder zu verge­hen oder in eine neue Epoche zu mün­den. Diese Epochen charak­ter­isieren sich durch bes­timmte wiederkehrende Eigen­schaften, die sich nicht nur in der Form des Kunst­werkes, son­dern auch im Denken des Kün­stlers nieder­schla­gen. Ein Prozess, der auf dem Vorherge­hen­den auf­baut – diesen bestäti­gend oder zer­störend – und dadurch eine Geschichte schafft. Been­det ein Kün­stler dieses Wech­sel­spiel, hört er für sich selb­st gese­hen auch auf, ein Kün­stler zu sein. Denn sein Kün­stler­sein definiert sich ja ger­ade über dieses Wech­sel­spiel. Jede Fer­tig­stel­lung eines Kunst­werkes birgt deshalb die Gefahr, dass der Kün­stler auch damit aufhört, aus sich selb­st her­aus ein Kun­stschaf­fend­er zu sein. Während der Zus­tand des Seins nur die Fest­stel­lung ein­er His­to­rie darstellt, ist der Zus­tand des Wer­dens untrennbar mit dem Akt des Wech­sel­spiels ver­bun­den. Und nur in diesem Wech­sel­spiel zum Gegenüber find­et Beziehung statt. Ein flüchtiger Moment des Wer­dens, der danach strebt, aus der Ver­gan­gen­heit in die Zukun­ft zu treten. Wer aber in der Ver­gan­gen­heit lebt, ohne die Gegen­wart wahrzunehmen, kann sich auch keine Zukun­ft mehr schaf­fen. In der Inter­ak­tion wer­den immer wieder neue Hor­i­zonte ange­gan­gen. Man fordert sich zum eige­nen Wohl gegen­seit­ig her­aus. Man verän­dert sich ständig, gemein­sam und für sich alleine, verän­dert seine Per­spek­tive auf die Gegen­wart, Ver­gan­gen­heit und Zukun­ft und bleibt dadurch immer wieder in Bewe­gung, immer in Entwick­lung. So ist ein Men­sch der tat­säch­lich in ein­er Beziehung ste­ht ein Wer­den­der und kein Seien­der. Und weil er durch sein Gegenüber dazu angeregt wird, sich zu verän­dern, verän­dert er zugle­ich auch die Art und Weise, wie er sich selb­st und sein Gegenüber wahrn­immt. Ein Prozess, der ohne ihre Geschichte und ohne Blick in die Zukun­ft keinen Sinn machen würde. Deshalb ist es unwahrschein­lich, dass Men­schen, die tat­säch­lich zueinan­der in ein­er Beziehung ste­hen, einan­der in diesem Prozess ver­lieren wer­den. Stets ist das Han­deln mit einem Geschichts­be­wusst­sein und ein­er Zukun­ftsvi­sion ver­bun­den. Wun­der­bar sieht man das wieder am Schaf­fen des Kün­stlers. Er kommt nicht umhin, seine bish­er geleis­tete Arbeit zu reflek­tieren und sich ein Bild von dem Angestrebten zu for­men. Und während er am Mate­r­i­al arbeit­et, wird er seine Arbeit stets mit diesen bei­den Mess­grössen ver­gle­ichen müssen. Sie ist der Ori­en­tierungspunkt sein­er Verän­derung. Der Stein wird klein­er und nimmt eine neue Form an. Im Gegenüber des Steins, im Kun­stschaf­fend­en passiert genau das­selbe. Auch er verän­dert sich mit diesem For­mung­sprozess, manch­mal sicht­bar­er, manch­mal weniger. Würde er dies nicht tun, wäre er nicht in der Lage, die For­mung am Gegenüber weit­erzuführen. Die For­mung des Kunst­werkes bed­ingt und wird bed­ingt durch die For­mung des Kün­stlers. Sie baut genau­so auf der Geschichte sein­er Entwick­lung, wie er auf der Entwick­lung ihrer Geschichte baut. Das bedeutet aber auch, dass ein Men­sch der in ein­er Beziehung ste­ht, dazu bere­it sein muss, loszu­lassen und immer wieder neu anz­u­fan­gen. Die Dynamik des Wer­dens löst sich dabei von der Sta­tik des Fes­thal­tens. Deshalb behält eine Kün­st­lerin oder ein Kün­stler die Fähigkeit zur Entwick­lung nur, wenn er oder sie bere­it ist, das Alte zugun­sten des Neuen und des Wer­dens loszu­lassen.

Das Wer­den am Gegenüber Beziehung ist ein Wech­sel­spiel mit dem Gegenüber. In diesem Aspekt sind sich Men­schen, die der Kun­st begeg­nen, Kün­stler und Liebende gle­ich. Wie Seiltänz­er müssen Sie in ihrer Beziehung zum Gegenüber ständig auf ihre Bal­ance acht­en. Dominiert ihre eigene Per­spek­tive, ver­drän­gen sie ihr Gegenüber aus ihrer Wahrnehmung, lassen ihm keinen Raum mehr und es muss notge­drun­gen weichen. Auf der anderen Seite kann man dazu geneigt sein, sich selb­st völ­lig mit seinem Gegenüber zu ver­schmelzen, anstatt sich an ihm und durch es zu entwick­eln. Aber diese Ver­schmelzung mit dem Gegenüber kostet die Iden­tität, lässt die Eigen­ständigkeit ver­loren gehen. In bei­den Rich­tun­gen ster­ben also das Selb­st und das Gegenüber einen Beziehungstod. In diesen Hand­lungsweisen find­en sich alle Men­schen tagtäglich sowohl als Opfer als auch als Täter wieder. Ob Kun­st und Kün­stler oder Part­ner und Part­ner, find­et in der Beziehung kein Wech­sel­spiel statt, ist in dieser Beziehung keine Entwick­lung möglich. Deshalb muss, wer das Wer­den will, dem anderen als Du begeg­nen und dabei sich selb­st als Ich ken­nen ler­nen, Gemein­samkeit­en wie Unter­schiede erken­nen und sich mit und durch den Anderen entwick­eln. Die Kun­st zeigt dieses Wer­den sehr schön: Der Kun­stschaf­fende erfasst das zu bear­bei­t­ende Mate­r­i­al, lotet seine Möglichkeit­en und Gren­zen aus, erken­nt seine Ander­sar­tigkeit und schafft gle­ich­wohl Gemein­samkeit­en. In diesem Prozess erken­nt er sich selb­st, wie er den anderen erken­nt. Ein Prozess, der alle Qual­itäten jen­er fordert, die sich in ein­er Beziehung bewe­gen. Deshalb zeigen Beziehun­gen auch erbar­mungs­los und egal, ob sie zwis­chen Kun­st und Kün­stler oder in Liebes­beziehun­gen stat­tfind­en, wie sie gelebt wer­den. Ver­schmilzt ein Kün­stler mit sein­er Kun­st, ver­liert er früher oder später den Ver­stand. Begeg­nen sich Men­schen, die miteinan­der leben, nicht mehr, wird ihre Beziehung zer­brechen. Denn Beziehung braucht Leben, egal ob in der Kun­st oder in der zwis­chen­men­schlichen Begeg­nung. Aber warum kann der Men­sch denn nicht ohne ein Gegenüber wer­den? Weil nur in der Inter­ak­tion mit anderen oder der Umwelt, auch tat­säch­lich Wirkung entste­ht, die dem Wer­den­den Ori­en­tierung geben. In sich selb­st kann der Men­sch zwar Wel­ten erschaf­fen, auf ihre Lebens­fähigkeit in der Wirk­lichkeit hin kann er sie aber nicht prüfen. Und genau das bräuchte er, damit er sich vergewis­sern kön­nte, dass sein Denken nicht auf Wege ger­at­en ist, die ihn selb­st zer­stören wür­den. Denn der Kör­p­er unter­liegt den Geset­zmäs­sigkeit­en dieser Wirk­lichkeit, während die Vir­tu­al­ität sich über diese hin­wegset­zen kann. Ent­fer­nt sich die Vir­tu­al­ität allzusehr von der Wirk­lichkeit der Wahrnehmung bringt dies auch den Kör­p­er in Lebens­ge­fahr. Ohne ein men­schlich­es Gegenüber ent­fremdet sich der Men­sch vom Men­schen. Deshalb braucht der Men­sch den Men­schen, braucht er ein Gegenüber aus der Wirk­lichkeit, an dem er Wer­den kann.

Die Rich­tung des Wer­dens Bringt ein Kün­stler seit Jahren nur noch gle­ichar­tige Kunst­werke her­vor, wirkt er monot­on und in sich selb­st ver­haftet. Trotz seines Schaf­fens bleibt der Kün­stler in dieser Sit­u­a­tion ste­hen, erzielt in der Auseinan­der­set­zung mit dem Gegenüber keine Entwick­lung mehr. Das zeigt, dass nicht jedes Wech­sel­spiel in ein frucht­brin­gen­des Wer­den mün­den muss. Wer­den ver­läuft immer in eine Rich­tung. Verän­derung ist Aus­druck des Wer­dens, ohne dass dabei seine Qual­ität fest­gelegt wird. Welche Rich­tung in der Verän­derung eingeschla­gen wird, oder ob das Wer­den wie im Falle des monot­o­nen Kün­stlers in eine ständi­ge Wieder­hol­ung mün­det, ist eine Frage der wil­lentlichen Gestal­tung. Allerd­ings unter­schei­det sich hier die Beziehung des Kün­stlers zu seinem Schaf­fen. Nur die Kün­st­lerin oder der Kün­stler entschei­den darüber, wohin sich dieses Wer­den entwick­elt wird. Der Verän­derung­sprozess aus­gelöst von der zwis­chen­men­schlichen Begeg­nung, ist stets mit dem Willen aller Beteiligten ver­bun­den. In der Begeg­nung wird ein­er­seits die Wirk­lichkeit des Gegenübers wahrgenom­men, ander­er­seits haben bei­de Beteiligten die Möglichkeit, ihr Wer­den bewusst in eine Rich­tung zu treiben. Dabei wird die eigene Posi­tion und die Posi­tion des Gegenübers geprüft und daraus Schlüsse für die eige­nen Entwick­lung gezo­gen. In diesem Prozess wird dem Wer­den­den und dem Wer­den eine Entwick­lung gegeben. Dage­gen fol­gt die Materie, die im Schöp­fung­sprozess der Kun­st entste­ht, ein­er erlern­baren Geset­zmäs­sigkeit, die erst in der Vari­a­tion der Hand­habung weit­er aufgeschlüs­selt wird. Die Ver­ant­wor­tung zur Verän­derung lastet also stärk­er beim Kun­stschaf­fend­en. Dafür entste­ht in der Kun­st ein klar­er Out­put. Für alle wahrnehm­bar entste­ht eine Form, die jed­er aus sein­er eige­nen Per­spek­tive bew­erten wird.

Eine einzi­gar­tige Geschichte Im Wech­sel­spiel wer­den Gegenüber füreinan­der einzi­gar­tig, denn im gemein­samen Wer­den entste­ht ihnen auch eine gemein­same Geschichte. Das Ich wird am Du und das Du am Ich. Bei­de haben also Anteil am Sein des anderen. So wird der Kün­stler durch jedes sein­er Kunst­werke, durch jeden geglück­ten Ver­such und jedes Misslin­gen. Sie haben ihn zu dem gemacht, was er heute ist, doku­men­tieren sein Wer­den. In diesem Prozess gibt es keine Abkürzun­gen. Alles war notwendig, damit man ist und wird. Und selb­st wenn das Gegenüber aus­ge­tauscht wird, geht das Wer­den am gle­ichen Ort weit­er, wo man mit seinem vorheri­gen Gegenüber aufge­hört hat – auss­er, dass das Wech­sel­spiel von neuem definiert und die Bestre­bun­gen neu gerichtet wer­den müssen. Der Men­sch braucht die Begeg­nung, damit er wird. Darum ist es unsin­nig, einen Men­schen zu fra­gen, warum er ein Bild noch bei sich hän­gen hat, oder einen Kün­stler, warum er immer noch Kun­st macht, oder Men­schen in ein­er Liebes­beziehung, warum sie noch zusam­men sind? Ohne das Wech­sel­spiel dieser Begeg­nun­gen wären sie näm­lich selb­st nicht, darum muss auch ihr Gegenüber nicht in Frage gestellt wer­den.

End­pro­dukt Wer­den Wer sich mit sein­er Kun­st im Nir­vana der Sor­glosigkeit wäh­nt, wird nun ent­täuscht sein. Wie jedes Pro­dukt ein­er Beziehung drückt ein Kunst­werk (auch Videos oder bewegte Instal­la­tio­nen) einen Zwis­chen­stand des Wer­dens aus. Beziehung, zwis­chen­men­schlich oder zur Kun­st, ist Aus­druck eines ständi­gen Wer­dens. Gemein­samkeit ist nichts Sta­tis­ches, son­dern in jed­er Hin­sicht etwas Dynamis­ches. Die Verbindung ermöglicht es, ständig in Bewe­gung zu bleiben – eine unendliche, wenn auch gerichtete Bewe­gung auszuführen. Ein Per­petu­um Mobile – nur nicht an der gle­ichen Stelle, son­dern ständig im Wan­del von einem Ort zum andern. Eine Suche nach Form und Iden­tität ein ständi­ges bewusstes Wer­den.

Bild: Eine «frische Per­le» / Foto: zVg.
ensuite, Jan­u­ar 2011