Von Karl Schüpbach — Mit schöner Regelmässigkeit taucht sie alljährlich auf, die Erinnerung an den Weihnachtsmarkt vor dem Münster in Strassburg und der Mitternachts-Messe im Innern dieses grossartigen Baudenkmals. Ich empfinde eine gewisse Unbarmherzigkeit darin, dass dabei immer wieder dieselben Gedankengänge und Selbstgespräche provoziert werden, die zeitliche Distanz vermag daran nichts zu ändern. Neu ist dieses Jahr einzig, dass ich diese Gedankenkobolde auf Papier bannen kann, dank meiner Mitarbeit im Kulturmagazin ensuite. Ich werde im Folgenden also von einem 24. Dezember berichten, der schon einige Jahre zurückliegt. Dabei werden auch andere Orte zur Sprache kommen im Zusammenhang verschiedener Wahrnehmungsformen von Musik und unabhängig von der Jahreszeit. Weihnachtsgedanken schon anfangs des Monates? Ein Grund ist einfach und leicht nachvollziehbar: der Redaktionsschluss ist vor Ende des vorangehenden Monates festgelegt. Die nicht zu übersehenden «Weihnachtsdekorationen» rutschen jedes Jahr weiter nach hinten und beeinflussen unsere Gedanken. Auch der Osterhase reibt sich immer mehr die Augen angesichts der Lichtlawine, die da auf ihn zurollt.
Weihnachtsmarkt in Strassburg
Wer kennt sie nicht, die unverwechselbare Atmosphäre von Weihnachtsmärkten? Die typische Mischung verschiedenster Gerüche, Glühwein, Gewürznelken, Kerzenwachs und vieles mehr. Die lautstark angepriesenen Gegenstände, von feinster Kunstfertigkeit bis hin zum reinen Kitsch, kurze aber freundliche Kontakte mit VerkäuferInnen, die zutiefst überzeugt sind, dass sie die besten Waren anbieten, oft verbunden mit einem ironischen Augenzwinkern, Menschen verschiedenster Herkunft im Gedränge und Stimmengewirr, und… Musik, unüberhörbar. Eine krächzende Kindertrompete, aus dem Lautsprecher «la donna e mobile» oder «mamma mia», ein Strassenmusiker mit einem Akkordeon, daneben einer mit einer singenden Säge, Rock, Pop und Rap, was war da gerade, ich kann es nicht genau hören. Es war bitter kalt, für diese Jahreszeit sicher nichts Aussergewöhnliches. Im hell erleuchteten Münster im Hintergrund, das einen stimmungsvollen Rahmen abgab, sollte um Mitternacht klassische Musik im Rahmen einer Messe stattfinden. Es versprach auch Schutz vor der Kälte.
Im Innern des Strassburger Münsters
Flucht nicht nur vor der Kälte, sondern auch vor der geschäftigen menschlichen Betriebsamkeit und – vor allem – vor der Musikberieselung draussen. Die Klänge der Musik, ausgeführt von französischen KollegInnen, sollten uns zudem in Weihnachtsstimmung versetzen. Welch eine trügerische Illusion: die bittere Kälte hatte ihren Weg auch in das Innere der Kirche gefunden. Ungläubig setzen wir uns auf eine eiskalte Kirchenbank, immer noch in der irrigen Meinung, den Klängen der Krönungsmesse von Mozart lauschen zu dürfen. Was wir aber in Wirklichkeit erlebten, war ein höchst weltlicher, menschlicher Zirkus: ein ständiges Kommen und Gehen von Menschen, die sich in normaler Lautstärke unterhielten, die auswendig gelernten Kommentaren von Fremdenführern. Das Schlimmste wohl: Weihnachten bedeutet Kerzenlicht. Hier aber beherrschten die aufdringlichen Blitzlichter die Szene. Ich habe während meiner Salzburger-Zeit das Meisterwerk von Mozart unzählige Male gespielt. Nur so war es möglich, dass mein Ohr bemerken konnte, dass meine KollegInnen mit der Interpretation der Krönungsmesse den aussichtslosen Kampf gegen das Stimmengewirr aufgenommen hatten. Ich kann nur hoffen, dass die MusikerInnen, wissend was ihnen an Widerwärtigkeiten bevorstand, die letzten Zigarrenkisten von Instrumenten benutzt haben.
Kurzes Berner Intermezzo
Die warme und heimelige Atmosphäre einer Elsässer Weinstube hat bewirkt, dass die Kälte wich, dafür aber ein unbändiger Zorn von mir Besitz ergriff. Seit Jahrzehnten beklage und bekämpfe ich die Geringschätzung, die dem Musikerberuf rau ins Gesicht bläst, die eben erlebte Szene im Münster von Strassburg war einer der unzähligen Kronzeugen für die Respektlosigkeit, mit der man Berufsmusikern begegnet. Ich höre Verantwortliche des Berner Münsters beteuern: das könnte bei uns nicht geschehen. Ganz sicher nicht, was das Kommen und Gehen und den Lärmpegel anbelangt. Die Kälte: Dankbar sei es vermerkt, dass klamme Finger während Münster-Konzerten, gepaart mit unerträglichem Durchzug, der Vergangenheit angehören. Aber dennoch, sachte, sachte meine Damen und Herren: einen Steinwurf vom Münster entfernt liegt das Stadttheater Bern. Dort spielen meine Kolleginnen und Kollegen immer wieder unter menschenverachtenden Bedingungen, nicht wegen Kälte oder Lärm von aussen, sondern wegen unmöglichen Platzverhältnissen und gesundheitsgefährdender Akustik. Es ist höchst deprimierend zu verfolgen, dass bei den aktuellen Diskussionen über eine Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen dem Stadttheater Bern und dem Berner Symphonieorchester (BSO) dieser in meinen Augen wesentlichste Punkt nicht der Erwähnung wert ist. Geringschätzung, Geringschätzung und nochmals Geringschätzung.
Szenenwechsel: in der Berner Reitschule
Ich kann die Tatsache nicht genug betonen, dass ich in der Reitschule – auf Initiative der BetreiberInnen – Matineen mit klassischer Musik veranstalten durfte, mit begeisternder Zustimmung meiner KollegInnen des BSO und mit zähneknirschender Duldung des Arbeitgebers, was mein Denken über die Kulturszene unserer Stadt mitgeprägt hat! Lassen Sie mich, stellvertretend für viele, ein Konzert wieder aufleben, das mir heute noch, nach 20 Jahren, beim Erinnern Gänsehaut verursacht. Es war einer der ersten Abstimmungs-Sonntage, wo die Berner Stimmberechtigten über den genau so destruktiven wie arroganten Antrag von bürgerlicher Seite zu befinden hatten, ob die Reitschule, weg von kulturellen Aktivitäten, materiellen, gewinnbringenden Zwecken zugeführt werden sollte. Die Stimmung im zum Bersten vollen Saal war gedrückt, ängstlich, Wut war auch zu spüren. Bitte unterschätzen Sie nicht: etwa die Hälfte (!) des Publikums waren unsere gängigen (Casino)-KonzertgängerInnen, die andere setzte sich aus ReitschulbetreiberInnen zusammen. An diesem Sonntag spielte eine Kollegin aus dem BSO zwei Werke für Violine allein, die Partita Nr. 2 von J. S. Bach, mit der Ciaccona, und die Sonate von Béla Bartók. Wir wussten alle um das immense geigerische Können unserer Kollegin, an jenem Tag wuchs sie aber über sich hinaus, sie lotete die beiden Werke in ihrer ganzen Tiefe aus. Die Erschütterung des Publikums war direkt körperlich greifbar. Und dann ereignete sich das, was solche Augenblicke zur Weihestunde erhebt: nach dem Verklingen des letzten Tones herrschte andächtige Stille, vorerst kein Applaus, kein Mensch verliess den Saal. Dann löste sich die Spannung – wie lange dauerte der kostbare Moment? – die Geigerin wurde mit Beifall überhäuft, sie konnte sich kaum von der Bühne zurückziehen.
Am gleichen Abend gab es in der Reitschule Grund zum Feiern: die Bernerinnen und Berner hatten der Abbruch-Initiative an der Urne eine deutliche Abfuhr erteilt. Die Stimmung war ausgelassen und fröhlich. Es gab für mich einen unvergesslichen Höhepunkt: ein hochgewachsener, junger Mann – er war einer der Mitbegründer der Sonntags-Matineen mit Mitgliedern des BSO – kam auf mich zu, er hatte immer ein wenig Mühe mit dem Sprechen, und sagte zu mir: «d’ Musig het gwunne».
Szenenwechsel: im grossen Saal des Casinos in Bern
In seinem grossartigen Buch «Klang ist Leben. Die Macht der Musik» schreibt Daniel Barenboim über das Erklingen und Verklingen von Klängen, Tönen. Mit besonderer Sorgfalt widmet er sich vor allem dem Verklingen, wie etwa zu früh einsetzender Applaus eine zerstörerische Wirkung hat. Als aktiver Musiker früher, und als regelmässiger Zuhörer heute, bin ich immer wieder konfrontiert mit dem Verhalten des Publikums. Es gibt die Unwissenden, die zum Beispiel im Verlaufe einer Sinfonie zwischen den Sätzen applaudieren. Leider stört in Bern im grossen Saal des Casinos ein «Musikfreund», der dem letzten Klang das Recht auf Verklingen nicht einräumt, sondern mit seinem überlauten «Braaavooo!» mögliche Ergriffenheit gleich erwürgt. Es geht aber zum Glück auch anders, ähnlich wie ich es eben im Kapitel «Reitschule» beschrieben habe.
Es ist nicht lange her, das BSO spielte unter der Leitung von Eliahu Inbal die 2. Sinfonie von Gustav Mahler. Vom ersten Klang an war spürbar, dass sich hier etwas Aussergewöhnliches ereignete. Wie soll ich es umschreiben? Das Publikum vibrierte vor Spannung, oder, je nach musikalischer Aussage, vor glücklicher Gelöstheit, Mahler ist ja ein Meister im Vermitteln von völlig gegensätzlichen Stimmungen. Allgegenwärtig aber war Ergriffenheit und Erschütterung. Nach dem Schlussakkord, die oben beschriebene Stille vor dem Applaus, nicht etwa vom Dirigenten durch eine abwartende Geste beeinflusst. Es war ein Moment von kollektiver Abgehobenheit – wenn Sie sich die Grösse des Saales vorstellen, kann man hier füglich von einem wunderbaren Augenblick sprechen, den Goethe gebeten hätte zu verweilen…
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Der Platz vor dem Münster in Strassburg, das Innere des Münsters, die Reitschule in Bern und der grosse Saal des Casinos auch in Bern, sind die Schauplätze, wo ich den Versuch unternommen habe, Hörerlebnisse zu schildern. Musik am Rande, Musikberieselung, ist allgegenwärtig, sie hat ihren Platz in unserer Gesellschaft auf sicher. Genau wie das Bedürfnis nach Zerstreuung, schlimmer wohl, die Flucht vor sich selber, gepaart mit einer Unfähigkeit zu wahrer Konzentration nicht wegzudenken sind. Musik im Zentrum dagegen, ist alles Andere als allgegenwärtig. Sie muss sich ihren Platz immer wieder erkämpfen, ihrer Entfaltung und Verbreitung werden stets Steine in den Weg gelegt, sie muss sich sogar Auseinandersetzungen über ihren Sinn gefallen lassen!
Foto: zVg.
ensuite, Dezember 2010