Von Matthias Heep & Mahmoud Turkmani — Der Chor der Universität Bern feiert in diesem Jahr sein 25-jähriges Jubiläum. Gleichzeitig dirigiert Matthias Heep, der auch als freischaffender Komponist tätig ist, unseren Chor seit 10 Jahren. Aus diesem Grund hat Matthias Heep im Auftrag des Chores zusammen mit dem bekannten libanesischen Komponisten und Musiker Mahmoud Turkmani das Musiktheater «L’Orient n’existe pas» komponiert.
Unser Bild des aktuellen Orients fällt durch die momentanen politischen Umwälzungen völlig auseinander. Die Vorstellung, dass die arabisch-muslimische Bevölkerung des Nahen Ostens aus kulturellen Gründen nie in der Moderne ankommen würde, war in vielen unserer Köpfe fest verankert. Und plötzlich, als die Zeit gekommen zu sein scheint, zerbricht dieses Spiegelbild in Scherben – wenigstens in den Medien und in unseren Köpfen.
L’Orient n’existe pas – der Orient ist in Wirklichkeit der Tagtraum des Okzidents; die Idee vom Morgenland enthält letztlich nur Wünsche und Hoffnungen, Ängste und Horrorvisionen des Abendlandes, phantastisch vergrössert und gespenstisch verzerrt. In dieser Wahrnehmung – die, ob nun gerechtfertigt oder nicht, von namhaften Kulturhistorikern vertreten wird – ist das, was wir gemeinhin Orient nennen, kein real existierender Kulturraum, sondern eine Projektion: unverfälschte Sinnlichkeit und Leidenschaft anstelle von Rationalität und Berechnung, die glückliche Verbindung von Rausch, Spiritualität und uralter Weisheit. Im Okzident hingegen «kultivieren wir den Nebel und fressen das Fieber zusammen mit wässrigem Gemüse in uns hinein» (Rimbaud). Also: Ex oriente lux!
Denkt man an diesem Punkt konsequent weiter, kommt zwangsläufig nicht nur das Licht aus dem Orient. Seit dem Altertum galt der Orient als Hort des Despotismus und der drakonischen Strafen: «…erst geköpft und dann gehangen, dann gespiesst auf heisse Stangen…» freut sich der Obersklave Osmin in Mozarts «Entführung aus dem Serail». Dass damit aber durchaus europäische Hinrichtungsmethoden zitiert werden, vergisst der gut unterhaltene Theaterbesucher gemeinhin!
So wie europäische Journalisten heute aus Kairo, Tunis und weiteren arabischen Städten berichten, haben früher bereits andere europäische Reisende aus diesen Regionen der Welt berichtet. Die Collage «L’Orient n’existe pas» besteht zum grossen Teil aus literarischen Sedimenten dieses idealen Orients, die sich während der vergangenen Jahrhunderte im Keller unserer westlichen Kultur abgelagert haben, in direkter Nachbarschaft zu den sprichwörtlichen Leichen: Dichtung und Reisebeschreibungen, grosse Kunst, Kitsch und Klischee. Die Beschäftigung mit diesen unseren alten und neuen Orient-Träumen ist aber nicht nur interessant und amüsant; sie verrät auch einiges über unser Verhältnis zum heutigen Orient.
Dieses Werk soll kein Lehrstück sein, sondern mit den Klischees, Projektionen und Imaginationen – die auch immer die Wirklichkeit widerspiegeln – spielerisch umgehen. Dekonstruktion und Konstruktion sollen ineinander übergehen. Reflexion und Erfahrung, Realität und Imagination stehen bei „L’Orient n’existe pas“ für Mitwirkende und Publikum im Zentrum.
Das Musiktheater wird jeweils in Kirchen aufgeführt. Die architektonischen Eigentümlichkeiten dieser Orte werden mittels einer sparsamen, punktuellen Inszenierung genutzt. Letztere wird von einem entsprechenden Belichtungskonzept von Markus Güdel begleitet.
Foto: zVg.
ensuite, Mai 2011