Von Frank E.P. Dievernich — Lexikon der erklärungsbedürftigen Alltagsphänomene (XI): Um Wirtschaft, Organisationen und jede andere Form sozialer Systeme zu gestalten, braucht es Mut. Dabei ist es unerheblich, ob es um Gründung, Veränderung oder gar um das bewusste Beibehalten von etablierten Strukturen geht. Stellt die Wut, über die dieses Lexikon bereits das letzte Mal berichtet hat, eine Form angestauter Energie dar, deren Drang nach Entäusserung ohne Orientierung an einen Massstab erfolgt und daher masslose Züge annehmen kann, so ist Mut als eine auf einen Punkt fokussierte Energie zu verstehen, die den Kontext und wiederum seine Reaktionen zum Teil mit kalkuliert. Mut trägt den Funken Rationalität in sich, den die Wut abgestreift hat. Natürlich braucht es auch oft Mut, um seiner Wut ausdruckt zu verleihen, aber in dem Moment, wenn der Sprung über das gefühlte, immaterielle Hindernis getätigt wird, für den es eben den Mut braucht, dann ist zumindest Mut der letzte Bewusstseinsakt, bevor z.B. die Wut als ungehemmte Kraft zum Ausdruck kommt. Auch die Angst, die ähnlich wie die Wut eine auf das eigene System ausgerichtete Unkontrollierbarkeit darstellt, kann ein Antreiber sein, um mutig zu handeln: Aus Angst das Ruder rumreissen, bevor das Unternehmen den Bach runtergeht. Auch hier erfolgt dann eine bewusste Kanalisierung, die sich in dem Moment der Entscheidung, eben den «Turnaround» leisten zu wollen, manifestiert. Die dritte Form eines Energiezustandes, der zu einer Handlung führt, wäre das Gefühl einer inneren treibenden Kraft, die sich an dem Positiven, an der Option, an der Potentialität selbst ausgerichtet, ohne auf Wut oder Angst zugreifen zu müssen: Lust. Diese positive Lust ist aber zunehmend Mangelware in einer komplexen Gesellschaft geworden, die sich selbst zur Bedrohung, zum Druck, zur Erwartung geworden ist. Und so werden Unternehmen heute überwiegend nicht nach der Idee eines guten Lebens geführt, als vielmehr nach dem Prinzip der sogenannten Sachzwänge. Wer also glaubt, dass Abteilungsleiter wirklich Abteilungen leiten, der glaubt auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten. Betrachten wir jene Zutaten, die derzeit die Wirtschaft «beflügeln», dann sind es vor allem Angst und Wut und erst zu guter Letzt die Lust. Allen drei ist gemein, dass der Sprung von dem jeweiligen energetischen Ausgangszustand in eine manifestierte Struktur, nämlich die Entscheidung, Mut braucht. Von daher ist Mut, oder wie es der Managementkritiker Stefan Tilk ausdrückt, Courage, die entscheidende Managementkompetenz und Ressource, sollen Organisationen, Gesellschaft oder das eigene Leben im Kontext der Anderen gestaltet werden, da jede Gestaltung Gefahr läuft, etablierte Strukturen von anderen zu stören. Ist eben noch davon gesprochen worden, dass Mut sich emotional spürbar offenbart, wenn eine gewissen Hürde übersprungen wird, dann könnte, ja dann wird dieses Gefühl verständlicher werden, wenn diese Hürde als Muster verstanden wird, welches übersprungen respektive gebrochen wird. Im alltäglichen, nichtspringenden Bewusstseinszustand sind wir kaum noch im Stande zu spüren, in welchem Muster wir gefangen sind. Im Zustand des Sprungs hingegen fühlen wir genau dies; das Muster, welches wir ansonsten nicht mehr sehen können. Dass das so ist, hat damit zu tun, dass der Sprung in eine neue Form mit einer Ungewissheit, mir einer Sphäre der Unsicherheit bezüglich des Neuen verbunden ist. Wir ziehen Register, die noch ungefüllt, noch leblos sind. Sicherheit hingegen bieten nur jene Schubladen (Muster), die wir täglich nutzen. Klaus Scharmer vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston spricht in diesem Zusammenhang auf Ebene des Individuums von «Download-Prozessen», die unserem Denken, Sehen, Sprechen, Fühlen und Handeln unterworfen sind. Alles was wir wahrnehmen und machen, tun wir mit Referenz auf bereits bekannte Schablonen, die uns bisher erfolgreich die Welt erklärten. Das bedeutet gefühlte Sicherheit. Aus einer komplexen undurchsichtigen Welt wird eine kausal erklär- und damit handelbare. Was ein wunderbares Täuschmanöver, welchem wir unterliegen und es gleichzeitig selbst gestalten! Mut bedeutet nun, ein neues Muster, oder zumindest den Grundstein für ein neues zu legen. Mut bedeutet, eine Schublade zu ziehen, von der man nicht weiss, was sie beinhaltet. Sollte das überfordern, so gibt es in der Mutforschung einen lindernden Schlüssel, nämlich das Experiment. Experimente sind nach Dirk Osmetz und Stefan Kaduk (Musterbrecher) prädestiniert, um mutig zu sein, oder es zu erlernen. Experimente stellen einen begrenzten Rahmen dar, in dem etwas Neues ausprobiert werden kann. Der Verweis, dass es sich nur um ein Experiment handelt, ist jederzeit möglich. Der drum herum herrschenden Rationalitäts- und Planungslogik der Organisation kann nach wie vor überzeugend gehuldigt werden. Sollen diese Experimente wirklich etwas bringen, dann ist es wichtig, sie als Keimzelle des Anderen, des Überraschenden zu kultivieren und zu schützen. Sie gehören unter jenem Aspekt beobachtet, was daraus in einer noch ungeschriebenen Zukunft für die Organisation verwendet werden kann. Was davon ist anders, kann aber in den bestehenden Organisationskontext als anschlussfähig integriert werden? Hier bindet sich der Mut an die Sicherheit der Schubladen und macht sich selbst möglich, ladet sich quasi wieder auf. In einer Welt, die vor allem auf Veränderung, Anpassung und Flexibilität aus ist, obwohl sie sich spür- und beobachtbar danach sehnt, endlich einmal bleiben zu können, wie sie gerade ist, dürfte vor allem als mutig gelten, Bestehendes zu kultivieren, Bekanntes zu stabilisieren, die Erlaubnis auszusprechen, nichts mehr zu verändern, Routine und Tradition zu leben. Feiern Sie also mal richtig Weihnachten, backen Sie bis zum Umfallen, stellen Sie den grössten Weihnachtsbaum auf, bis der Stern an der Tannenspitze die Decke Ihres Zimmers kitzelt – und küssen Sie Ihre Liebsten im Rausch eines Amoks (Rosenstolz). Lieben Sie. Alle und Alles. Verzeihen und Vergeben Sie. Es ist ja nur ein Experiment: Weihnachten.
*bewirtschaftet vom Forschungsschwerpunkt Unternehmensentwicklung der Berner Fachhochschule, www.wirtschaft.bfh.ch, Kontakt: Frank.Dievernich@bfh.ch
Foto: zVg.
ensuite, Dezember 2011