Von Sonja Wenger — Dass einige afrikanische Länder über eine lebendige Massenfilmproduktion à la Bollywood verfügen, ist seit einiger Zeit auch im Westen bekannt. Weniger weiss man über die äusserst kreative unabhängige Filmszene des vielseitigen Kontinents, in der oft sensationelle (Kurz-)Filme oder witzige Animationsfilme entstehen. Doch wie so oft der Fall in Ländern, deren Bevölkerung mehrheitlich mit dem täglichen Überleben (oder dem Aufbau eines Mittelstandes) beschäftigt ist, fehlt es in diesem Umfeld meist an Ressourcen – und nur sehr selten schaffen es afrikanische Produktionen gar ins westliche Kino.
Dies könnte sich nun ändern. Mit «Nairobi Half Life» kommt ein Film in die Schweiz, der seit einem halben Jahr einen beeindruckenden internationalen Siegeszug hinter sich hat. Bisher wurde das Drama auf 29 Festivals gezeigt, darunter das Zürcher Filmfestival, lief erfolgreich in deutschen Kinos, heimste einige Anerkennungspreise ein, und war der kenianische Beitrag bei der Selektion für den besten ausländischen Film der Oscar-Verleihung 2013.
Der Film entstand 2011 im Rahmen eines Workshops in Nairobi, der im Jahr zuvor erstmals stattgefunden hatte und auf einer gemeinsamen Initiative des deutschen Regisseurs Tom Tykwer und seiner Partnerin Marie Steinmann beruhte. In den Workshops werden jeweils über sechzig Filmschaffende aus mehreren Ländern von MentorInnen aus Deutschland und Grossbritannien in den verschiedenen Bereichen von Filmproduktion und Schauspiel unterrichtet. So soll zur Entwicklung des modernen afrikanischen Films beigetragen werden. Die Besten unter den Teilnehmenden können danach mit professioneller Unterstützung Produktionen realisieren. «Nairobi Half Life» war nach «Soul Boy» die zweite dieser Art, zwei weitere Filme sind bereits in Produktion.
«Nairobi Half Life» verfügt über eine packende Authentizität, da er nicht nur mitten im Slum von Nairobi gedreht wurde, sondern auch erstaunlich angstfrei Realitäten abbildet. Der Film handelt von Mwas (Joseph Wairimu), einem jungen Mann, der in seinem Dorf von einer Karriere als Schauspieler träumt und deshalb in die grosse Hauptstadt fährt. Zwar gelingt es ihm ganz unerwartet, bei einem Vorsprechen eine Theaterrolle zu ergattern, doch kaum ist er in Nairobi angekommen muss er ganz unten durch. Er wird ausgeraubt, landet unschuldig im Gefängnis und schliesst sich nach seiner Entlassung aus purer Not einer Gang von Autodieben an. Bald lebt Mwas ein anstrengendes Doppelleben zwischen Kunst und Kriminalität – bis er und die Gang nicht nur ins Visier einer rivalisierenden Bande, sondern auch in das der korrupten Polizei geraten. Plötzlich geht es bei Mwas nur noch um das nackte Überleben.
Zwar erfindet «Nairobi Half Life» das Genre des Dramas nicht neu. Doch er verfügt über eine erfrischende Dynamik und nimmt bei Problemthemen kein Blatt vor den Mund. Da wird gezeigt, wie hartherzig Menschen in einer harten Umgebung miteinander umgehen, was die Folgen von Raubtierkapitalismus, Prostitution und Korruption sind, und wie tief die Kluft zwischen Arm und Reich wirklich ist. Und obwohl einige sehr gewalttätige Szenen gezeigt werden, etwa als Mwas und seine Kollegen für die «Verbrecherabschussquote» zweier Polizisten herhalten sollen, ist der Grundton von «Nairobi Half Life» eher optimistisch. Der Grund dafür ist einerseits die differenzierte Schauspielleistung von Wairimu und den anderen ProtagonistInnen, die einem sehr nahe gehen. Aber auch der Umstand, dass das Publikum durch die Augen von Mwas in jeder noch so verworrenen Situation etwas Positives sehen kann. Denn egal wie tief der junge Mann fällt: Seinen Traum einer Schauspielkarriere wird er niemals aufgeben.
«Nairobi Half Life», Kenia / Deutschland 2012. Regie: David Tosh Gitonga. Länge: 96 Minuten.
Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2013