Von Sonja Wenger — Die jugendlichen Migranten und Migrantinnen kommen aus Ländern wie Afghanistan oder Bosnien. Sie haben meist schon traumatische Schicksalsschläge erlebt, sind unter teils dramatischen Umständen vor Krieg oder Armut geflohen, wenn sie erstmals in die Integrationsklasse von Christian Zingg kommen, einem Lehrer aus Basel. Hier betreten sie eine neue Form von Neuland. Zingg nimmt jeweils rund zwei Dutzend junge Menschen während zwei Jahren unter seine Fittiche und hilft ihnen, Fuss zu fassen: Er vermittelt ihnen die deutsche Sprache, hilft, die Schweizer Kultur zu verstehen, und erarbeitet mit den Jugendlichen die nötigen Grundlagen, die sie brauchen um eine Arbeitsstelle oder Lehre zu finden. Er sei, sagt Zingg gleich zu Beginn, wohl der «erste Eingeborene», den sie kennenlernen würden.
Die einen packen es, andere bleiben aussen vor, für die meisten ist der Weg hart und steinig – doch für alle ist Zingg zwei Jahre lang Lehrer, Sozialarbeiter, Therapeut, und wohl manchmal auch Elternersatz in Personalunion. Mit umwerfender Ruhe, einer erstaunlich wirksamen Mischung aus Distanz und Nähe, sowie viel pädagogischem Geschick identifiziert er die Schwächen und fördert die Stärken seiner Schützlinge. Und da er sich nicht scheut, auch unangenehme Wahrheiten – ungeachtet allfälliger Sympathien – auszusprechen, kommt kaum jemand umhin, ihm eine Menge Respekt zu zollen.
Die Schweizer Nachwuchsregisseurin Anna Thommen hat Zingg vor einigen Jahren im Rahmen eines Medienprojekts kennengelernt, und es war ihr sofort klar, dass sie über eine seiner Integrationsklassen einen Film drehen wollte. Vom ersten Schultag an bis zur Abschlussfeier zwei Jahre später begleitete Thommen den Lehrer Zingg und eine Handvoll junger Menschen, die sich bereit erklärt hatten, einen ungeschminkten, gar intimen, manchmal entlarvenden Einblick in ihr Leben zu geben.
«Neuland» wurde Thommens Abschlussarbeit an der Zürcher Fachhochschule für Film, und man mag es kaum glauben, dass dies erst ihr dritter Dokumentarfilm ist. So stockte dem Publikum beim Zürcher Filmfestival vergangenen Herbst buchstäblich der Atem ob der Dichte, Reife und Vielschichtigkeit des Werks. «Neuland» gelingt es, weit über das hinauszugehen, was die Aufgabe von Dokumentarfilmen ist: so authentisch wie möglich die Wirklichkeit – und wenn möglich auch die Wahrheit – zu vermitteln. Der Film berührt, weil er zum einen zeigt, was ein Lehrer, der seinen Beruf als Berufung versteht, bewirken kann. Gleichzeitig ist «Neuland» aber auch ein feinfühliges, unprätentiöses und zutiefst überzeugendes Porträt junger Menschen, die auf ganz unterschiedliche Weise ihren Traum von einer besseren Zukunft angehen wollen.
Dabei verweigert sich Thommen den üblichen Stereotypen. Sie wirft Klischees über den Haufen und zeigt das Leben, wie sie selber sagt, «in allen Graustufen», befreit von jenen Vorurteilen, die wohl die Meisten auf die eine oder andere Art mit sich herumtragen. Die Nähe, die nach zwei Jahren entstanden sei, habe ihr gar keine andere Möglichkeit mehr gelassen. Und es ist genau diese Nähe, die sich auch auf die Zuschauer und Zuschauerinnen überträgt.
Nach einem verdienten Siegeszug durch wichtige Festivals und mehreren Preisen, etwa in Zürich und Solothurn, hat nun auch das breite Publikum die Gelegenheit, «Neuland» im Kino zu «betreten». In einem gesellschaftlichen Umfeld, das zunehmend von der Angst vor dem Fremden und politischer wie auch menschlicher Intoleranz geprägt ist, wird ein solcher Film zu einem wichtigen Beitrag zur ethischen Bildung – und könnte kaum zu einem besseren Zeitpunkt gezeigt werden.
«Neuland», Schweiz 2013. Regie: Anna Thommen. Länge: 93 Minuten.
Foto: zVg.
ensuite, März 2014