Von Luca Zacchei — Von Genetik halte ich nicht so viel. Die Vererbungslehre kann mir zum Beispiel nicht erklären, wieso in derselben Familie grundverschiedene Menschen aufwachsen können. Trotzdem glaube ich, dass mir meine italienischen Eltern genetische Anlagen weitergegeben haben, die nicht unbedingt wintertauglich sind. In meiner Gebrauchsanweisung stand sicher das folgende Kleingedruckte: «Not designed for winter use.» Es fängt schon bei meinen Extremitäten an: im Winter sind sie immer kalt. Trotz ledernen Handschuhen, wärmenden Sohlen und langen Unterhosen. Und mir wurde eine Wintersport-Intoleranz diagnostiziert. Ich reagiere beispielsweise allergisch aufs Schlittschuhlaufen. Dies äussert sich zumeist mit bläulichen bis schwarzen Flecken auf meinem Körper. Der exakte Farbton hängt davon ab, mit welcher Wucht ich mit der Werbebande des Eisfeldes zusammentreffe.
Genetik hin oder her: ich lebe nun mal in einem Land des Wintersports und passe mich so gut es geht den lokalen Brauchtümern an. Aus diesem Grund versuche ich, die Schönheit des Schweizer Winters und seiner Freizeitbeschäftigungen zu geniessen. Am liebsten betreibe ich das Extreme-Fondueing: Bei dieser Form des Fondue-Essens wird die Carving-Gabel im Eiltempo in der Käsemischung gedreht. Die Kunst besteht darin, die Kurve so hinzukriegen, dass das Brotstück nicht herunterfällt und der Käse nicht zentrifugal in der Wohnung verteilt wird. Eine weitere Lieblingsbeschäftigung ist das Après-Ski. Oder Après-Langlauf. Oder Après-Curling. Oder Après-Schlittenhunderennen. Egal was, aber bitte Après.
Aber mal ehrlich: selbst hoffnungslose Romantiker und Schneesportfanatiker werden früher oder später von der eiskalten Wirklichkeit der Winterferien eingeholt! Fürs Anziehen der Skikleider benötigt man im Durchschnitt eine halbe Stunde. Wer Kinder hat, braucht noch länger. Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Kinder erst dann Pipi lassen müssen, nachdem sie angezogen wurden. Unter Eltern wird diese Regel als Urinversalgesetz gehalten (schreibt man genauso). Dann muss das Auto mit der notwendigen Ausrüstung beladen werden. Unterwegs wird man vom fahrenden Holländer aufgehalten, welcher vor jeder Bergauf-Kurve bremsen muss. Der erste freie Parkplatz ist ungefähr drei Kilometer von der Skistation entfernt. Die Herde zieht anschliessend die Skischuhe an und bewegt sich mit derselben Eleganz und Leichtigkeit betrunkener Elefanten.
Die Schlange vor der Kasse ist mit 30 Metern glücklicherweise nur halb so lang wie diejenige vor der Gondel. Nachdem ich beim Anstehen ein paar Skier an den Hinterkopf geknallt bekommen habe, werde ich mit aller Wucht in die Gondelkabine gepresst. Die Luft ist stickig. Ich habe das Gefühl, dass jemand die Situation schamlos ausnützt, um die knappe Luft mit zusätzlichen Leibwinden zu verpesten. Es könnte die Alte im pinkigen Overall sein. Sie lächelt auch so verschmitzt. Oder vielleicht der Engländer mit der roten Nase. Oder die russische Dame mit der Moncler-Daunenjacke. Oder vielleicht bin ich es. Irgendwo müssen schliesslich die Gase entweichen, wenn man wie eine Sardine zusammengepresst wird. Ich lächle deshalb vorsichtshalber zur alten Frau zurück.
Zuoberst ist die Aussicht herrlich. Die perfekte Kulisse für einen Selfie erster Güte. Schön lächeln, von oben nach unten das Foto schiessen, damit das Raclette-Doppelkinn besser cachiert und die Facebook-Freunde neidisch gemacht werden. Das Karma schlägt prompt zurück: ein 5‑Jähriger brettert mit seinen Skiern in mich hinein und tut so, als ob ich nicht existieren würde. So einfach kommst du mir nicht davon! Ich verfolge ihn wie ein Bösewicht in einem James Bond-Film der 70er-Jahre. Die Abfahrt auf der blauen Piste verlangt mir alles ab. Beim Teller-Lift kämpfe ich mich durch die Schlange der Kleinkinder hindurch. Ich sehe aber den 5‑Jährigen nicht mehr. Jetzt bin ich an der Reihe. Ich nehme die Stange und platziere den Plastik-Teller vorsichtig in der Lendengegend. Ich bin voller Hoffnung, dass nichts Lebensnotwendiges zusammengedrückt wird. Beim ersten Ruck stelle ich fest, dass meine Hoffnung vergebens war. Aber ich bleibe schön locker und lasse mir nichts anmerken. Wegen der Kälte verliere ich unterwegs Deziliter von Nasenwasser bis zur Grenze der Dehydrierung. Ich werde fast ohnmächtig. Das Schlittern nimmt während des Aufstieges zu. Ich verlasse ungewollt die Spur und falle im Tiefschnee um. Der 5‑Jährige zischt an mir vorbei und winkt mir zu. Und ich denke wieder: «I’m definitely not designed for winter use!»
Foto: zVg.
ensuite, Februar 2014