Von Peter J. Betts — «Nur Sieger erobern die Titelseite», so eingepackt, oben rechts diskret mit «Anzeige» markiert, kommt das «Migros Magazin» vom 14. Februar 2011 daher: grosses M (migrosorange) und M (graublau/diskret) oben links; darunter das eigentliche Titelbild: der – Kopf eines fünf-klingigen Gillette Rasierers mit dem höchst zeitgemässen Namen «Fusion», und das Ganze wendet sich auf eher gräulichem, greulichem Blau an hoffentlich blauäugige Leser. So viele mehrdeutige (nein, nein: keineswegs zweideutige) Zeichen der Zeit einer Gesellschaft, die wohl, fast, als Ganzes vorbehaltlos an den Erfolg, an Sieger glaubt und an Fusion als der Weisheit letztem Schluss und an Wachstum ohne Grenzen – und ohne Rücksicht auf Verluste. Auf der hinteren Seite der Magazin-Verpackung im gleichen greulichen Blau das Siegerteam: fünf Gillette-Produkte, die «Für das Beste im Mann» stehen – in viel Plastik verpackt, was sich zwar buchstäblich glänzend ins Verkaufsregal hängen lässt und für den Zugang zum Angebotenen wohl einen Schneidbrenner erfordert. – Die Rückseite (d. h. das Innen der Hülle) ist unter dem Motto «7 Gründe für den Erfolg» die Exegese dafür, was «Für das Beste im Mann» steht. Ein Magazin darf eine Hülle haben. Und wenn Sie sich ärgern, dass der Vermerk auf Ihrem Briefkasten, «Bitte keine Werbung!», schon wieder umgangen worden ist: Sie sind selber schuld! Warum sind Sie Besitzerin einer Cumulus-Karte, die allen «Mitgliedern» das Recht auf das Magazin einräumt oder aufbürdet und fast die Pflicht auferlegt, das Zeug zu lesen? Und nun zum eigentlichen Magazin. Natürlich mit Titelbild und einigen Ködern, die auf den Inhalt des gegen ein Pfund schweren Magazins neugierig machen sollten: Das kleine Bildchen einer Politologin mit ägyptischen Wurzeln, die ein Interview über die Zukunft der arabischen Welt gibt; das eigentliche «Titelbild»: grosse aufgerissene Augen und Mund, einer lachenden noch immer jungen, als «Verrückte Nudel» umschriebenen Frau, einer Siegerin, die vor 26 Jahren die Fasnacht nach Bremen gebracht haben soll und in der Rubrik «Meine Welt» ihr Universum präsentiert; unten links die angesichts der oben beschriebenen und offenbar von der Migros portierten Gillette-Verpackung etwas sehr kühne Behauptung: «Die Migros setzt auf schonende Verpackung» und die Feststellung «Fasnachtschüechli für eine gute Laune»; dann Mitte links der Hinweis auf die EINlage, «EXTRA» (migrosorange): «Antworten auf fast alle Fragen des Lebens» (nur 16 Seiten!). Die beiden orangen Riesen lassen sich Werbung – offen oder kaschiert – einiges kosten, und der rote Zwerg gratuliert ihnen zu ihrer Preispolitik, und wir sitzen alle in einem Boot – ob voll oder nicht. Und nur neun Tage danach erklärt Patricia Moreno charmant, klug, fast ohne hörbare Wehmut in der «Mattinata» auf DRS2, die Sendung «Zeilensprünge» würde ab 28. Februar (zwei Wochen nach Erscheinen des Migrosmagazins im Visier) eingestellt – vielleicht nicht auf ewig. Tröstet sie? Vor den «Zeilensprüngen» hatte es das etwas bieder klingende, aber alles andere als biedere «Wort zum Tag» gegeben. Über lange Zeit las etwa die Dichterin Maja Beutler jeweils während einer Woche, dann von einer Kollegin oder einem Kollegen für eine Woche abgelöst, eigene Texte zum Tag. Nicht LITERATUR IN GALAUNIFORM, sondern, was mit persönlichem Blick einer Autorin und ihrem Herzen, ihrem Gefühl, ihrer Wahrnehmung entsprechend zu gegebener Zeit zu sagen gewesen wäre. Ebenso wenig wie bei «Zeilensprünge» handelte es sich um Belehrungen oder Moralpredigten, sondern um kIeine, nicht ganz alltägliche, bei gutem Zuhören keineswegs fremde, aber meist übersehene Interpretationsmöglichkeiten der aktuellen Realität auf geistiger oder gefühlsmässiger Ebene. Dann folgten die «Zeilensprünge». Lange Zeit also hatten in der «Mattinata» ein paar Minuten literarische Optik zur Sinngebung des kommenden Tages beigetragen. Nach dem «Wort zum Tag» konnten mit den «Zeilensprüngen» Texte oder Textfragmente aus ein paar Jahrhunderten, oft Übersetzungen den individuellen, aktuellen Alltag betreten: «…Dass das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den harten Stein besiegt…» Am 24. Februar 2011 las Doris Wolters die letzten acht Abschnitte aus dem «Kleinen Prinzen» – den Abschied vom Kleinen Prinzen bis zur Schlussfolgerung: «… Und ihr werdet sehen, wie sich alles verwandelt… Aber keiner von den grossen Leuten wird jemals verstehen, dass das eine so grosse Bedeutung hat.» Würde der Zöllner in Bert Brechts «Die Entstehung des Buches Taoteking auf dem Wege des Laotse in die Emigration» den eben verstorbenen «Zeilensprüngen» begegnen, könnte er auch hier sagen: «Ach, kein Sieger trat da auf ihn zu.» Für DRS2 haben die grossen Leute, die professionellen Sieger, entschieden. Die Meldung über «Endspiel» lautet ungefähr so: «DRS2 optimiert ab dem 28. Februar 2011 das Programmangebot am Morgen…» (optimiert!) und «…Livegespräche über aktuelle Ereignisse…» und «Hundert Sekunden Wissen bereits um 7 Uhr» werden die – musikalisch – verhältnismässig unveränderte Mattinata bereichern; und weiter wörtlich: «…Wir sind sicher, dass das akustische Design eine neue, frische Farbe gibt…» Fusion von Musik und Klangdesign: das bedeutet Wertsteigerung. Verlieren gleich optimieren. Modegewohnheit als Realität? Euphemismus? Zynismus? Der Verlust grosser Urwaldflächen steigert nicht selten Spekulationsgewinne an der Kaffeebörse. Der erfolgreiche definitive Verlust der Gattung Homo Sapiens optimiert die Chancen auf Artenvielfalt und gesundes Klima der Erde? Die «Zeilensprünge» werden definitiv nie die Titelseite erobern. Olga Rubitschon hat seit vielen Jahren das weiterhin bestehende musikalische Geschenk am Morgen mit Weisheit, Verstand, Einfühlungsvermögen, Pfiff, Schalk ergänzt: durch ein paar wohlausgewählte Worte, die – einmal gesendet – für alle Zeiten ins All hinausstrahlen, vorher hier von einigen gehört worden waren, was für sie – sofern sie es zuliessen — durchaus bisweilen alles zu verwandeln vermochte, vielleicht nicht nur für jenen bestimmten Tag: mit Worten eben, Bildern, Gedanken wurden dem Tag der Zuhörenden ein Schmunzeln, ein Lächeln, eine Träne, ein Nachdenken als zusätzliches Geschenk mitgegeben. Die Stimmen von Doris Wolters und Wolfram Berger ermöglichten es. Olga Rubitschon geht in Pension: wohl keine wirkliche Überraschung. Die Pensionierung hat sie mit Sicherheit mehr als nur verdient, und ich hoffe, sie wird sie in vollen Zügen geniessen. Ihr möchte ich hier aber von Herzen auch für die Zeilensprünge danken. Bemüht sich niemand um eine kluge Nachfolge? Aber eigentlich hat die Direktion recht: was haben eine dichtende Zeitgenossin, Tucholsky, Mascha Kaléko, Sokrates, Saint-Exupéry, ein dichtender Zeitgenosse, Lichtenberg, Mark Twain, Frisch dem jeweils aktuellen Tagesablauf beizufügen? Brauchen wir nicht! Nur Sieger erobern die Titelseite, wir optimieren am Laufmeter; wir fusionieren; wir wachsen, wachsen, wachsen; wir stehen für das Beste im Mann; wir leben von systematischen Widersprüchen; wir haben so viel mehr als sieben Gründe für den Erfolg; wir feiern den Konsum bis zur letzten Patrone; wir wissen einfach, Kultur ist höchst einträglich; Kultur ist ein Event; wir brauchen keine Inhalte: wir sind sicher, dass das akustische Design eine neue, frische Farbe gibt, was kümmern uns Inhalte? Das IST die Kultur unserer Politik oder eben, die Politik unserer Kultur. Good bye Zeilensprünge! Und?
Foto: zVg.
ensuite, April 2011