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Odyssee zu sich selbst

Von Ves­na Mlakar — In Stuttgart gelingt Mar­co Goecke mit sein­er Urauf­führung von «Orlan­do» eine Adap­tion von Vir­ginia Woolfs Roman, die die Essenz der Vor­lage wider­spiegelt.

Erwartungsvolle Span­nung liegt über dem großen Haus des Staat­sthe­aters Stuttgart. Über dem Ein­gang prangt in großen Let­tern der Titel des 1928 veröf­fentlicht­en Romans der britis­chen Schrift­stel­lerin Vir­ginia Woolf (1882–1941): «Orlan­do». Eben diese opu­lent und unter­halt­sam geschilderte, fik­tionale Biografie eines jun­gen Edel­mannes mit Namen Orlan­do, der nach sieben­tägigem Schlaf als Frau erwacht, und ins­ge­samt fast dreiein­halb Jahrhun­derte englis­ch­er (Kultur-)Geschichte durch­lebt, ohne selb­st mehr als 20 Jahre zu altern, diente Mar­co Goecke als Vor­lage zu sein­er gle­ich­nami­gen Kreation. Dass seine flat­trige, bisweilen intro­vertiert wirk­ende, skur­rile Hand­schrift vor allem für Reduk­tion und bild­hafte Abstrak­tion ste­ht, und nacherzählbare Hand­lungsstränge keines sein­er bish­eri­gen Werke ausze­ich­nen, schürt die Neugierde auf die Pre­miere um so mehr.

Ander­er­seits gilt Goecke, der sich seit Jahren mit wach­sen­dem Zus­pruch auf dem Par­kett zeit­genös­sis­chen Bal­lettschaf­fens behauptet, mit seinem – häu­fig angst­be­lade­nen – Blick ins Innere sein­er Fig­uren als Spezial­ist für die Her­ausar­beitung ver­schat­tet-mys­tis­ch­er, zumeist von starken Empfind­un­gen ges­teuert­er Sit­u­a­tio­nen. Wie ein Bild­hauer, dessen bevorzugte Werkzeuge gezielt einge­set­ztes Licht, die Expo­si­tion kraftvoll bewegter (Rücken-)Muskulatur, und das hyper­schnelle Spiel vornehm­lich der Hände, Arme und des Oberkör­pers sind, meißelt er seine Gestal­ten aus dem Dunkel des Büh­nen­raums: in Gesten ex- oder implodierende Per­sön­lichkeit­en, deren Charak­tere sich in markan­ten Krüm­mungen der Kör­p­er man­i­festieren, während ihre oft min­i­mal­is­tisch anmu­ten­den Bewe­gun­gen, die ger­adezu erup­tiv aus dem Inner­sten der Inter­pre­ten her­vorzubrechen scheinen, Emo­tio­nen bzw. Gedanken­wel­ten wider­spiegeln. Kein leichter, aber ein unverkennbar­er Stil, dem Goecke durch­weg auch in seinem gut zweistündi­gen Bal­lett Orlan­do treu bleibt.

Es ent­fal­tet sich eine Abfolge von ins­ge­samt 18 Szenen (Libret­to: Esther Dreesen-Sch­aback), die – abge­se­hen von ein­er Pause – naht­los ineinan­der überge­hen, und sich inhaltlich ganz an der lit­er­arischen Buchvor­lage ori­en­tieren. Sie sind das Gerüst, an dem ent­lang Mar­co Goecke seinen Haupt­in­ter­pre­ten Friede­mann Vogel (erster Solist des Stuttgarter Bal­letts) die weite Reise durch Zeit, Gemüt­szustände und Beziehun­gen auf dem Weg zu Selb­stfind­ung und Selb­stver­wirk­lichung antreten lässt.

Aus­gangspunkt hier­für ist der kahle Stamm ein­er Eiche, an dem sich – auf son­st leer­er Bühne – Orlan­dos tänz­erische Fan­tasie und poet­is­che Inspi­ra­tion entzün­den. Auf dem Boden sitzend, die Beine nach vorne gestreckt und den Rück­en an das Holz gelehnt, eröffnet Friede­mann Vogel (für das bloße Auge zuerst kaum wahrnehm­bar) das Bal­lett. Mit Zuck­un­gen im Oberkör­p­er, die bald auf seine Extrem­itäten über­greifen, begin­nt er sich zu bewe­gen. In steifen Port de bras durch­sä­gen seine Arme die Luft, mutieren zu rotieren­den Schwin­gen, die seinem Kör­p­er in den Stand aufhelfen. Dann kippt er zur Seite, wobei ihm die Beine – jed­erzeit zu exzen­trischen Sprung­vari­a­tio­nen bere­it – im tiefen Plié der zweit­en Posi­tion Halt geben.

Mit welch­er Bril­lanz und kör­per­lich­er Aus­drucksstärke Vogel – 31 Jahre alt, und ein Star in Sachen Klas­sik – das ver­track­te Vok­ab­u­lar Goeck­es tech­nisch müh­e­los meis­tert, ist sagen­haft. Fast per­ma­nent im Ein­satz, trägt er dank sein­er Präsenz das gesamte Stück vom ersten bis zum finalen Solo (auf Philip Glass’ «Heroes Sym­pho­ny» nach David Bowie), das in ein­er schlicht­en Ver­beu­gung endet. In diesem Moment bricht Goecke aus der vorgegebe­nen Struk­tur aus, und erlaubt seinem Tänz­er, sich von der dop­pelgeschlechtlichen Rolle und damit Orlan­dos ange­häuften Erfahrun­gen und Erin­nerun­gen regel­recht frei zu tanzen. Um das zu ver­ste­hen, bedarf es kein­er Vorken­nt­nisse. Für den Rest des Abends ist bess­er aufge­hoben, wer im Pro­grammheft vor Beginn die Hand­lung nach­li­est bzw. weiß, worum es in Woolfs Roman geht.

Auf eine reiche Ausstat­tung verzichtet Goecke, obwohl der Stoff sich hier­für ger­adezu anböte. Stattdessen find­et und erfind­et er mith­il­fe eines sub­til inter­agieren­den Corps des Bal­lets und ein­er über­schaubaren Anzahl von Req­ui­siten (darunter aus Papi­er gefal­tete Vögel und Schif­fchen) über­raschend sim­ple, die jew­eili­gen Stim­mungen ver­mit­tel­nde Bilder für den bit­terkalten, eisi­gen Frost, der das Land in sein­er Umk­lam­merung hält, den Karneval, eine Abreise per Schiff, das gesellschaftliche Treiben eines großen Festes, oder Orlan­dos Besuch in der Gruft sein­er Ahnen. Manch­es davon deutet der Chore­ograf allerd­ings so flüchtig an, dass die Gefahr beste­ht, es zu überse­hen. Seine Idee, die Tänz­er des Win­ter­bildes den Ein­druck der star­ren Kälte noch laut­ma­lerisch durch vernehm­lich dumpf-keuchende Atem­stöße ver­stärken zu lassen, bren­nt sich jedoch unwider­ru­flich ins Gedächt­nis ein. In Pas­sagen wie diesen glückt Goecke ein Quan­ten­sprung, der in die Zukun­ft des Hand­lungs­bal­letts weist.

Den Wan­del von Zeit, Mod­en und Örtlichkeit­en für das Pub­likum zumin­d­est anzudeuten, über­lässt Goecke geschickt sein­er Ausstat­terin Michaela Springer. Licht­tech­nisch unter­stützt von Udo Haber­land reichen ihr dafür wenige Far­bakzente – für Kon­stan­tinopel und den bevorste­hen­den Auf­s­tand klei­det sie die Tänz­er in rote Anzüge – und Ver­satzstücke wie ein Reifrock, fein in Wellen gelegtes Haar, ver­schieb­bare schwarze Wände, oder ein schräges, qua­dratis­ches Podest. Ger­adezu gewöhn­lich nimmt sich dage­gen die Beset­zung des Hun­des durch einen Schaus­piel­er (als Gast: Sebas­t­ian Schwab) aus. Würde er nicht ab und an leise ins Ohr seines Her­rchens bellen – man wüsste nicht, wohin mit der Fig­ur.

Darüber hin­aus zieht der Abend alles, was seine dichte Atmo­sphäre aus­macht, aus der stilis­tisch so bre­it gefächerten Klang­welt des britis­chen Kom­pon­is­ten Sir Michael Tip­pett. Eigens in Koop­er­a­tion mit der britis­chen Diri­gentin Sian Edwards aus Werken der Zeitspanne von 1951 bis 1994 zusam­mengestellt, passt sie – instru­men­tal voll­mundig aus dem Orch­ester­graben, von den Sängern aus den Prosze­ni­um­slo­gen vor­ge­tra­gen – wie maßgeschnei­dert zu Orlan­dos vir­tu­osem Tanz durch die Jahrhun­derte.

Ein­samkeit, in die sich Orlan­do (entsprechend den inneren Monolo­gen des Romans) in solis­tis­chen Pas­sagen immer wieder zurückzieht, ist eines der chore­ografis­chen Leit­mo­tive. Ein anderes sind die diversen Zusam­men­tr­e­f­fen, die Orlan­do im Stück­ver­lauf prä­gen. Sie nehmen mit ein­er vere­in­nah­menden Ali­cia Ama­tri­ain als ältere, spin­nenar­tig nach vorn gebeugte Köni­gin Elis­a­beth I. ihren Anfang. Was die Begeg­nung emo­tion­al in Orlan­do aus­löst, ver­mag Goecke inner­halb des sich langsam zu Berührun­gen steigern­den Duetts unauf­dringlich, aber überdeut­lich zu visu­al­isieren: Wie ein Spiegel­bild assim­i­liert Orlan­do den gen­uinen Bewe­gungskodex seines Gegenübers, bis bei­de Part­ner sich wieder tren­nen. Kuriose, zeichen­haft ver­schlüs­selte, detail­re­iche und dabei assozi­a­tion­san­re­gende Kör­per­ereignisse, auf die der Zuschauer sich ein­lassen muss.

Vor allem im ersten Teil baut Goecke dieses Schema immer weit­er aus. Er führt Orlan­do mit Kat­ja Wün­sche in der Rolle der kühlen Eis­prinzessin Sasha die große Liebe zu, die ihn nach einem lan­gen Kuss ver­lässt. Orlan­dos Suche nach Erfolg im Schreiben find­et in ein­er hefti­gen Auseinan­der­set­zung mit dem zwielicht­en Dichter Nicholas Greene (unbeugsam per­fide: Dami­ano Pet­tenel­la) ihr vor­erst abruptes Ende, und die grotesk mit Hasenohren und einem Riesen­hut her­aus­geputzte Erzher­zo­gin Har­ri­et Grisel­da (humorig verkör­pert durch Dou­glas Lee, der im 2. Akt auch das männliche Alter Ego Erzher­zog Har­ry tanzt) scheit­ert in ihren Ambi­tio­nen, den jun­gen Burschen für sich zu gewin­nen.

Weitaus los­gelöster von den gedruck­ten Vor­gaben, sprung­hafter und schneller im Tem­po geht es nach der Pause weit­er. Goecke schickt nacheinan­der drei Alle­gorien – Tänz­erin­nen in Tütüs und Spitzen­schuhen – auf die Bühne, um Orlan­dos Ver­wand­lung zur Frau zu überwachen. Ange­tan mit ein­er Kor­sage und hüb­schem Schei­t­el tanzt Friede­mann Vogel alias Orlan­do for­t­an weich­er, ja geschmei­di­ger. Die Inter­ak­tio­nen mit jenen, die nun seinen Weg kreuzen, bleiben blass­er. Nur William Moore ent­flammt als ver­liebter Shelmer­dine nochmals eine Inten­sität, die von Begehrlichkeit und Lei­den­schaft kün­det. Verblüf­fend, wie Goecke seinem Grund­satz fol­gt, möglichst alles, was er aus­drück­en will, in Bewe­gun­gen zu pack­en. «Eigentlich ist alles erzählbar mit einem Tänz­er und einem Blatt Papi­er. Der Tanz sagt genug. Meine Arbeit ist nichts Erfun­denes. Es ist ein Kom­men­lassen, ein For­men des Mate­ri­als und Schaf­fen von Ord­nung, damit am Ende aus ein­er Fülle an Schrit­ten das Stück entste­ht.»

Foto: Regi­na Brocke
ensuite, August 2010

 

Artikel online veröffentlicht: 10. November 2018