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Oft, scheint mir

Von Peter J. Betts — Oft, scheint mir, scheinen die Tageszeitun­gen – mit sehr weni­gen Aus­nah­men – leer. Natür­lich ist das Zeitungspa­pi­er bedruckt und bebildert und voller Inser­ate; es stört mich wenig, dass die einzel­nen Teile nur dünne Bünde sind, es stört mich, dass sie kaum Orig­inäres enthal­ten. Soweit ich beurteilen kann, sind die Inhalte – soweit welche auszu­machen sind – vom Lay­out bes­timmt. Trau­rig macht mich die wach­sende Überzeu­gung, dass mir scheint, die paar Seit­en hät­ten mehr Inhalt, wenn sie völ­lig unbedruckt daherkä­men: ich kön­nte sie anschauen, darin blät­tern und mir eine Welt entste­hen lassen über Lokales, Nationales, Glob­ales; über Kun­st, Lit­er­atur, Musik; über Arbeitswelt, soziale Struk­turen, alles über­wuch­ern­den Wach­s­tum­swahn; Nöte und Hoff­nun­gen von Kindern, Frauen, Män­nern; meinetwe­gen auch über die heutige Königs­diszi­plin, den Wirtschaft­steil. Mit mein­er Phan­tasie; dem, was ich weiss; dem, was ich wis­sen möchte; dem, was ich denke; zum Teil dem, was ich bewusst oder unbe­wusst gehört habe. So über­lese ich die bedruck­ten Seit­en diag­o­nal, und sel­ten macht es: «Klick»; es spielt (fast) keine Rolle, welche Zeitung mir in die Hände ger­at­en ist, ob Gratiszeitung oder eine beliebige (sie sind, fast, alle beliebig) am Kiosk oder im Abon­nement erwor­bene «Zeitung». Ich weiss, unab­hängig vom biol­o­gis­chen Geschlecht: «I am no spring chick­en.» Ich weiss, im Alter «weiss» man: «Früher war alles bess­er.» Auch die Zeitun­gen, natür­lich. Und dann hat mir ein Gym­nasiallehrer, der Deutsch unter­richtet hat­te, ein paar fotokopierte Col­la­gen aus den Sechziger- bis Achtziger­jahren zugeschickt. Es sind Zeitungsauss­chnitte, die er im Unter­richt zu ver­wen­den pflegte. Ich erkenne schla­gar­tig: früher war vieles auch nicht bess­er bei den Tageszeitun­gen. Hätte das Lay­out damals den Inhalt bes­timmt, man hätte vielle­icht sog­ar dafür dankbar sein müssen. Ein Beispiel aus der «Bern­er Zeitung» von 1979? Andreas Zur­buchen titelt: «Heute rück­en 16’000 Rekruten ein»; darunter ein grobkörniges (der Fotokopier­er hat aus dem Zweis­pal­ter einen Vierspal­ter gemacht), qua­dratis­ches Schwarz-Weiss-Bild: Kaser­nen­hof (vielle­icht dort, wo heute Studierende der Hochschule der Kün­ste rum­ste­hen), schlaffe Schweiz­er­fahne, zwei Män­ner – in Hal­tung und Uni­form: rechts ein offen­bar etwas älter­er mit steifem Haupt­mannshut, der einem jün­geren mit bei­den Hän­den ein Stur­mgewehr in dessen ver­trauensselig aus­gestreck­ten Hände legt (liebevoller Respekt und heiliger Ernst wird pro­fes­sionell aus­ges­trahlt, vom Jün­geren und vom Älteren, fast auf Augen­höhe – wobei der Jün­gere, wie es sich wohl gehört, etwas nach oben blickt); darunter die Bildle­gende des Her­rn Zur­buchen: «Aus Jun­gen wer­den junge Män­ner: das Stur­mgewehr ist nur ein Sym­bol der Wand­lung.» Und all das nur elf Jahre nach 1968 – man mag fast nicht auf den Globuskrawall warten: er ist über­fäl­lig. Die Welt ist noch in Ord­nung, wie Sie dem Zitat aus dem Fis­cher­lexikon ent­nehmen kön­nen: « … mit Hil­fe der UN wurde nach wech­selvollen Kämpfen» (nicht in Libyen!) «die Front am 38. Bre­it­en­grad sta­bil­isiert, der im Waf­fen­still­stand (abgeschlossen 27. 7. 1953) Gren­zlin­ie zwis­chen Nord- und Süd­ko­rea wurde. Die Frieden­skon­ferenz in Genf war erfol­g­los.» Die Welt war 1979 noch immer in Ord­nung: für die bei­den jun­gen Män­ner im Bild kam das Böse mit Sicher­heit aus dem Osten (noch war kein ver­wirren­der Mauer­fall erfol­gt, noch hat­te sie Herr Bush über die Achse des Bösen nicht aufgek­lärt). Und unter diesem über­drama­tis­chen Zeitungsauss­chnitt drei Zeilen, auch aus der «Bern­er Zeitung»: «Heute Mon­tag wird der chi­ne­sis­che Vizepremier seinen Staats­be­such in den USA been­den. Die Reise brachte…» (nichts mehr). Und das klingt nun wirk­lich hoch aktuell, nicht? Eine andere ein­drück­liche Fotokopie mit qua­dratis­chem, wenn auch weniger grobkörnigem Bild? Die Kopie auf der undatierten Seite des CH-MAGAZINS wird, wohl durch die Redak­tion, wie fol­gt ein­geleit­et: «IM BILD: Unter diesem Titel bit­ten wir jew­eils eine Per­sön­lichkeit, Gedanken zu einem Bild nach freier Wahl aufzuschreiben.» Das Bild zeigt einen Sol­dat­en in leichter Uni­form ohne (Stahl)Helm, mit offen­em Mund und ver­schwitzten Haaren, mit Stur­mgewehr am Rück­en (sie erin­nern sich: ein Sym­bol!) als kämpferisch­er Ren­n­fahrer auf dem heute zum Kult­ge­gen­stand mutierten Mil­itärvelo mit Rück­tritt. Es muss ein heiss­er Tag gewe­sen sein: rechts vom Kämpfer ste­ht am Strassen­rand eine jün­gere Frau in ein­er Art Hot­pants, von Bluse befre­it­em Bauch, mit eher grim­migem Gesicht­saus­druck und sträh­ni­gen (vom Winde ver­we­ht­en?) mit­tel­lan­gen Haaren, in bei­den Hän­den: Garten­schlauch in voller Aktion. Das Bild muss irgend­wann zwischen1986 und 1989 abge­druckt wor­den sein: in jen­er Zeit war Bun­der­rat Dr. Arnold Koller, der das Bild für seine viel­sagende Besprechung frei aus­gewählt hat­te, Vorste­her des eid­genös­sis­chen Mil­itärde­parte­mentes. So begin­nt die illus­tre Per­sön­lichkeit ihre Ausle­gung: «Eine Frau erfrischt mit dem Wasser­strahl einen von den Stra­pazen arg geze­ich­neten, sich völ­lig aus­geben­den, dem Ziel zus­treben­den Rad­fahrer. Der Betra­chter sieht es sofort, dieses Bild ist nicht gestellt. Es ist ein Bild hel­vetis­ch­er Real­ität…» Und so enden die magis­tralen Erläuterun­gen: «…Gedanken zu einem Bild: Ver­bun­den­heit von Volk und Armee, Mann und Frau, eigen­ständig und doch man­nig­fach aufeinan­der angewiesen, Sym­bol für ein ganzes Volk, Ein­heit in der Vielfalt, Wille zur Leis­tung, Freude am Leben, Ver­trauen in die Zukun­ft.» Auch 1989 noch kein Mauer­fall. Der Feind – Gor­batschow hin oder her — mit Sicher­heit aus dem Osten kom­mend. Eines der Haupt­geschäfte von Bun­desrat Dr. Arnold Koller: Bekämpfen der Volksini­tia­tive zur Abschaf­fung der Schweiz­er Armee. Erfol­gre­ich. Spätestens nach den Achtund­sechziger-Jahren hät­ten die bei­den oben skizzierten Presse­beispiele – nicht nur mit der bewusst aufge­set­zten Paz­i­fis­mus­brille gele­sen – tiefe Beun­ruhi­gung über den Zus­tand der Gesellschaft, über die Kul­tur der Poli­tik aus­lösen müssen. Aber wer erin­nert sich heute schon an Wolf­gang Borchert, im gle­ichen Jahr wie Dür­ren­matt geboren, zehn Jahre nach Frisch? Sein Stück «Draussen vor der Tür» wurde am 20. Novem­ber 1947, einen Tag nach dem Tod des Sech­sundzwanzigjähri­gen, uraufge­führt. Bis zum März 1965 hat­te «roro­ro» das 568-tausend­ste Exem­plar in Umlauf geset­zt. Unter den Titel, «Draussen vor der Tür», hat­te der Dichter geschrieben: «Ein Stück, das kein The­ater spie­len und kein Pub­likum sehen will.» Keine Koket­terie. Das Stück ist oft gespielt, sehr oft gele­sen wor­den, und doch, bedenkt man etwa die oben zer­fleis­cht­en Pres­se­texte pars pro toto oder die aktuellen täglichen Nachricht­en, hat­te Borchert über die nach­haltige Wirkung seines The­ater­stück­es eine mehr als nur zutr­e­f­fende Ein­schätzung for­muliert. Ein Lehrer, habe ich kür­zlich in in ein­er Kon­textsendung auf DRS2 gehört, sei ein Men­sch, der Wel­ten öffne. Die Lehrcol­la­gen meines Fre­un­des tun dies für mich. Für Sie? Noch ein Beispiel: ein auf A‑4 hin­auf ver­grössertes Inser­at im vollen Wort­laut, graphisch – sin­nig gestal­tet: Mobil­machung 1939 / 50 Jahre danach / Die Met­zger­schaft macht mit beim / Pro­jekt «Dia­mant». / Wir offerieren Aktion Freitag/Samstag / 1./2. Sep­tem­ber 1989 / Sied­fleisch / (ide­al für Spatz) / per kg Fr. 13.- / Aktion 1. — 9. Sep­tem­ber / Mobil­machungs- / Schüblig / 1 Paar extra gross Fr. 3.80. Vielle­icht, scheint mir nun, ist es bess­er, wenn die Zeitungs­bünde dünn und dank der unre­flek­tiert herun­terge­lade­nen Dutzend­ware leer bleiben. Schlechter, als was mit grossem redak­tionellem Aufwand hergeza­ubert wurde, ist es in der Wirkung nicht.

Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2011

 

Artikel online veröffentlicht: 26. Januar 2019