Von Ralf Wetzel — Lexikon der erklärungsbedüfrtigen Alltagsphänomene 1: Haben Sie schon einmal Ihre Organisation gesehen? Neinein, wir meinen nicht das Gebäude, in dem sie «sitzen» oder «niedergelassen» sein soll (als ob eine Organisation «sitzen» könnte!), nicht die Mauern, Stühle, PCs und Papierkörbe. Und wir meinen auch nicht ihre Repräsentanten, also ihre Mitarbeitenden. Ihre Chefs, Kolleginnen, Kollegen und Subordinierte, mit denen man gewollt oder ungewollt zu tun bekommt und die einen so rücksichtslos und unaufhaltsam mit den Interessen der Organisation, mit ihren Zielen, ihrer Vision, ihrem Leitbild und der Strategie, mit ihren internen Kommissionen und Deckungsbeiträgen, mit ihrem IT-Support und Zeiterfassungsformularen versorgen. Nein, all das meinen wir nicht, wir meinen die Organisation selber.
Sie meinen, auf Organigrammen haben Sie sie gesehen? Schön, dass Sie Humor haben, wir haben auch schon sehr herzhaft über die Vorstellung lachen können, dass man eine Organisation auf einem Blatt Papier in ein paar verbundenen Strichen finden könnte. Daran glauben offenbar nur noch Organisationsberater der einfacheren Sorte. Nein, im Ernst: Haben Sie? Falls es Sie beruhigt — wir haben auch noch keine gesehen. Das beruhigt Sie gar nicht? Unter uns gesagt: Uns beruhigt das auch nicht. Schliesslich bestimmen sie ganz massgeblich unser tagtägliches Verhalten. Und wenn sich Unsichtbarkeit mit Einflussreichtum verbindet, dann hinterlässt das immer ein sehr merkwürdiges, unangenehmes Gefühl. Das ist bei Ehepartnern, Geheimdiensten und Göttern übrigens ganz ähnlich. Das Gefühl kennen Sie? Sehen Sie, es geht doch. Und mit Organisationen ist das ganz ähnlich.
Wenn man nun genauer hinschaut, verstärkt sich dieses Gefühl. Wir können ihr nämlich überhaupt nicht entrinnen (das soll wenigstens bei Ehepartnern ja hin und wieder der Fall sein). Es gibt einfach nichts und niemanden, der heute ohne Organisationen auskommen könnte und der nicht in ihrem Einzugsbereich stünde. Keine Geburt ohne Kreissaal, keine Kindheit ohne Kindergarten und schon gar nicht ohne Schule, kein Berufsleben ohne Unternehmen, Arbeitsamt und Eingliederungsdienst, kein Liebesleben ohne Schwangerschaftstestproduzent. Kaum eine Urlaubsreise ohne Flugzeughersteller, ohne Fluggesellschaft, ohne Taxifirma, Hotel, Reinigungsdienst, Kondomhersteller, Detektivbüro, Fotolabor, HIV-Labor, Spital, Pflegedienst, Scheidungsanwalt, Ersparniskasse, Obdachlosenheim, Notarzt, Bestattungsinstitut, Lebensversicherung, sprituellem Erfahrungsraum und organisierter Wiedergeburt. Organisationen begleiten uns im Stillen und im Lärm, vom ersten bis zum letzten Atemzug. Sie sind überall und sie beobachten uns. Es gibt einfach keinen organisationsfreien Raum, nichts wo man «noch Mensch» sein könnte, ohne ihrem Einfluss zu unterliegen. In allen Löchern der Moderne sitzen sie und lachen sich tot über uns, genauso wie die Mäuse auf Betaigeutze. Wir haben völlig vergessen, wie es geht, wie sich das anfühlt – ohne sie! Und wir spielen mit, die ganze Zeit, in den vielen Rollen, die sie uns je nach Gusto vorschreiben. Etwa jene des erziehungswürdigen Kindes respektive Schülers, des motivationsbedürftigen Mitarbeitenden oder schlimmer noch des technisch unversierten Kunden, des Patienten, Klienten oder schlicht: des Falles.
Damit könnte man ja an sich noch leben, wenn sie nicht dauernd Einfluss auf unser Leben, unser Verhalten nehmen würden. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Sie sich innerhalb der Organisation völlig anders verhalten als ausserhalb? Dass Sie mit Ihrem Vorgesetzten, Ihren Mitarbeitern, Ihren Kunden ganz anders umgehen als mit Ihren Jass-Brüdern, Ihrer Ehefrau, Ihren Kindern und dem unerträglichen iPhone-Junkie in der Tram? Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Sie sich als Kunde (der eine ganz einfache Frage an eine Organisation richtet) völlig anders verhalten als der Techniker, Reklamationsbearbeiter oder gar Qualitätssicherer, dem ein Kunde nur eine simple Frage stellen möchte? Das sind nicht etwa Sie selbst, die diese Unterschiede produzieren, nein, das ist die Organisation, die das ganz subkutan von Ihnen erwartet. Und was machen wir? Wir gehorchen, wir folgen den nie explizit geäusserten Erwartungen. Hörig sind wir, jawohl! Offenbar funktionieren wir wie Lemminge, wir unterwerfen uns der stillen Diktatur der Organisation. Aber was das Schlimmste ist: Sie, also die Organisationen, lassen uns in einem ganz fiesen Glauben: Trotz all dem sind wir unbeirrbar davon überzeugt, sie lenken zu können. «Unternehmensführung» nennt sich das dann, «Organisationsentwicklung», oder gar: «Führung». Sie lassen uns diese Illusion. Nicht etwa, weil sie uns etwas gönnen möchten. Im Gegenteil. In den Momenten, in denen sich die sogenannten Organisationslenker hinstellen und Bilanzzahlen, Wachstumskurven und Marktpotenziale inszenieren — dann ist das für die Organisationen ganz grosses Kino. Dann nehmen sie Platz in grossen, bequemen Plüschsesseln, dann laden sie die Nachbarn oder ganze Quartiere ein, dann dimmen sie das Licht, reissen Popcorn-Tüten auf und stossen an auf den besten Managerspruch des Abends.
So kann das doch nicht weitergehen, wir müssen endlich einmal etwas gegen die heimliche Übermacht der Organisation unternehmen. Wollen wir uns weiter von etwas bevormunden lassen, was man gar nicht sehen kann? Von etwas, das per Definition undemokratisch, nämlich in Form von plakativer Ungleichheit – sie selber sprechen geschickt von Hierarchie, jaja, als ob wir zivilisierten Leute auf solche simplen Euphemismen hereinfallen würden, so blöd sind wir ja nun auch nicht — daherkommt? Nein, das können, das dürfen wir uns nicht länger bieten lassen. Deswegen haben wir schon einmal einen Verein gegründet, einen Vorstand gewählt und eine Satzung verabschiedet.
ensuite, August 2009