Von Heinrich Aerni — Eine neue Biographie von Eva Weissweiler: Otto Klemperer war wohl der bedeutendste Dirigent, der je in Zürich ein regelmässiges Engagement innehatte, neben Carlos Kleiber, der ebenfalls in den 1960er Jahren am Stadttheater tätig war, es aber nur gerade zwei Spielzeiten lang aushielt. Klemperers Zürcher Zeit war von unschönen Szenen bis hin zu einem Orchesterboykott überschattet, die Klemperers im hohen Alter noch unberechenbarerem Temperament, aber vor allem auch der Starrköpfigkeit der Orchestermusiker zuzuschreiben waren.
Nun hat die Deutsche Schriftstellerin und Musikwissenschaftlerin Eva Weissweiler eine Biographie geschrieben, die zweite nach Peter Heyworths zweibändigem Referenzwerk «Otto Klemperer. His Life and Times» (1983 bzw. 1996). Mit der Überschrift «Otto Klemperer – ein deutsch-jüdisches Künstlerleben» zielt sie von vornherein auch auf aussermusikalische Kategorien, wobei man im besten Sinn von einem umfassenden Zugang zur Persönlichkeit Klemperer sprechen kann, dreigeteilt in politisch, alltagsgeschichtlich, was im vorliegenden Fall auch das Erotische mit einschliesst, und schliesslich künstlerisch. Wie ein nicht enden wollendes Feuerwerk beschiesst uns Weissweiler gleichsam mit Quellen, dass es so richtig Spass macht. Viele davon hat sie selber aufgestöbert zwischen Zürich, Berlin, Wien und Washington, D.C., vieles musste sie von Peter Heyworth übernehmen, der öfter mal unsauber zitiert hatte. In beeindruckender Breite schafft sie Querbezüge zu Zeitgenossen, vom grossen Vorbild Gustav Mahler bis hin zum gewissermassen Geistesverwandten Ernst Bloch, zeichnet sie den historischen und künstlerischen Hintergrund, vor dem Klemperers Stationen plastisch werden: die schlesische Herkunft, die Jugend in Hamburg – sehr schön dargestellt die verschiedenen jüdischen Gemeinden bzw. Traditionen, die Ausbildung in den gegensätzlichen Konservatorien von Frankfurt am Main und Berlin, seine Stationen als Kapellmeister u.a. in Hamburg, Strassburg, Köln, Wiesbaden und schliesslich die zur Legende gewordenen Jahre 1927 bis 1931 an der Kroll-Oper in Berlin. Die zweite Lebenshälfte ab der Emigration fällt im Verhältnis zum ersten Teil summarisch aus, was Weissweiler vielfach zum Vorwurf gemacht wurde. Zu unrecht, sind doch sinnvoll gesetzte Schwerpunkte in jedem Fall dienlicher als ein krampfhaftes Streben nach Vollständigkeit.
Immer wieder thematisiert Weissweiler Klemperers Verhältnis zu seiner jüdischen Herkunft, die frühe Konversion zum Katholizismus, seine Wahrnehmung der politischen Vorgänge Anfang 1933 – Klemperer hatte laut Heyworth am 5. März die Deutschnationale Volkspartei gewählt –, und schliesslich die späte Hinwendung zum Judentum. Sehr schön wird sichtbar, wie die kompromisslose künstlerische Haltung, wie es bei so vielen Musikern zu beobachten ist, einhergehen konnte mit einer partiellen politischen Blindheit, etwa in Klemperers Loyalität gegenüber seinem alten Lehrer, dem engstirnigen und erzkonservativen Hans Pfitzner, bei gleichzeitiger höchster Verehrung einer Künstlerpersönlichkeit wie Busoni. Nicht auszumalen, wie es um Klemperers Ruf heute stehen würde, wenn er 1933 nicht hätte fliehen müssen, denn geblieben wäre er, zumindest vorerst, wie so viele andere.
Überzeugend ist auch der «Blick von unten», den Weissweiler immer wieder einnimmt, wenn sie die Besitzverhältnisse, die materielle und medizinische Not der unteren Bevölkerungsschichten, dem Orchester- und Theateralltag gegenüberstellt. Ebenso schafft sie eine ausgewogene Darstellung all der vor allem weiblichen Personen in Klemperers Umfeld – das Buch eröffnet mit einem Schlaglicht auf die kleine Tochter Lotte. Konsequent spürt Weissweiler den Liebschaften nach und trifft dabei Töne, die der in erster Linie männlichen Zunft der Dirigentenbiographen fremd sind, etwa wenn Alma Mahler 1911 «heftig mit Otto Klemperer (flirtet), der um diese Zeit wirklich hinreissend aussieht.»
Selbstverständlich erhält auch die musikalische Tätigkeit ihren Platz, das Dirigieren, die Kompositionen, der unter all den grossen Dirigenten konsequenteste Einsatz Klemperers für die Neue Musik bis zur Emigration, dann die Konzentration auf wenige Klassiker in Amerika und später England, die wohl lediglich aus kommerziellen Gründen erfolgt ist. Mit Hilfe von unzähligen Rezensionen entsteht das Bild des kompromisslosen Antiromantikers, der aufgrund seines Talents und seines Könnens die Leute in seinen Bann zu ziehen vermochte, der über dieses Können hinaus ein seltenes, gesamtkünstlerisches Bewusstsein dafür entwickelte, was er tat, dessen Leistungen aber nicht zuletzt aufgrund seiner immer wiederkehrenden psychischen Probleme durchaus schwanken konnten. Statt Sätzen wie: «Er … verteilt sausende Hiebe mit seinem Taktstock, den er wie ein Stilett auf die Sänger richtet», würde man lieber von ihr eine gesonderte Beurteilung der Frage nach der künstlerischen Besonderheit und letztlich der Faszination Klemperers erhalten, aber den Rahmen einer Biografie würde dies eher stören. Implizit bezieht sie hin und wieder Stellung, etwa wenn sie Klemperer selbst zitiert, der leicht befremdet über Richard Strauss’ antimetaphysische künstlerische Haltung sagte: «Er war immer bereit, Konzessionen zu machen. … Es gab irgend etwas Opportunistisches in seinem Charakter.»
Musikalische Untersuchungen zu Klemperer, wie sie Weissweiler ja auch selbst vorschlägt, werden noch einige Bücher füllen können. In ihrer Breite aber bedeutet diese Gesamtbetrachtung Klemperers, über den noch immer erstaunlich wenig geforscht wird, einen Glücksfall.
Eva Weissweiler: Otto Klemperer. Ein deutsch-jüdisches Künstlerleben. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2010
Foto: zVg.
ensuite, Oktober 2010