Von Frank E. P. Dievernich — Lexikon der erklärungsbedürftigen Alltagsphänomene 3*: Ist das anstrengend! Alle wollen mitreden. Überall und immer. Wenn es wenigstens nur beim Mitreden bliebe! Aber nein, der «Teilhabewahn» ist bis in jene Entscheidungshochburg geraten, die bisher dafür gesorgt hat, dass es Eindeutigkeit gab: die Hierarchie. Wer «oben» ist, sagte, was diejenigen zu tun haben, die «unten» sind. Das ergab eine Klarheit für beide Seiten. Die Handlungsorientierung war gesichert. Seit geraumer Zeit ist dieses Bild nur mehr pure Illusion. Tür und Tor stehen meilenweit offen, Realität ist, dass ohne Partizipation kein soziales Gebilde, wie Organisationen, also Verwaltungen, Theater, Schulen, Krankenhäuser, politische Parteien, Unternehmen etc. mehr zu steuern sind – und zudem: Eben wegen der Partizipation nicht mehr zu steuern sind!
Machen wir kleine Schritte: Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass Partizipation (vom lateinischen: particeps = an etwas teilnehmen) eine neuartige Erfindung sei. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass Partizipation immer schon ein Grundmuster sozialen Handelns war und dass es die Grundlage für jegliche Organisation bziehungsweise jede Form koordinierten, aufeinander bezogenen Handelns darstellte. Partizipation als einfache Teilhabe, als Teilnahme oder Mitwirkung verstanden, findet immer statt, wenn koordiniert etwas «produziert» werden soll. In diesem Sinne waren bereits im Taylorismus oder in der Sklavengaleere, als die Sklaven im Takt das Ruder schwangen, Leistungserbringungen nur durch eine Form von Teilnahme oder Mitwirkung möglich. Der, der anordnet, sollen die Befehle und Delegationen erfolgreich von statten gehen, ist angewiesen auf diejenigen, die sie ausführen. Mittlerweile ist es fast der Regelfall, dass auf eine Anordnung gar nicht mehr gewartet werden muss, um etwas zu tun, da bereits die Ausführenden erwarten, dass die Befehlsgeber etwas erwarten und folglich ihre Handlungen den Anordnungen vorziehen. Einbeziehung, eine weitere Definition von Partizipation, findet also bereits und vor allem auf geistiger Erwartungsebene statt. Soweit so gut.
Einen neuen Zungenschlag bekommt die Diskussion, wenn Partizipation sich vor allem auf die Einbindung von Individuen in Entscheidungs- oder Willensbildungsprozessen bezieht. Darum geht es neuerdings. Warum das, muss man fragen, scheint sich doch oben skizziertes Modell bewährt zu haben. Warum also die Kehrtwende und warum ist es vor allem das Management von Organisationen, das selbst, quasi freiwillig, Partizipation als Mittel der Führung einsetzt und sogar fordert? Machtverhältnisse, wie könnte es in einem sozialen Umfeld auch anders sein, spielen auch hier eine zentrale Rolle. Weil es einen Markt gibt, der im Zuge seiner eigenen Übersättigung nach Optionen sucht, sich ausdifferenziert darzustellen, wurde irgendwann der Kunde erfunden, den man versucht, individuell anzusprechen. Dabei mussten Bedarfe im Vorgriff des tatsächlichen und aktuellen Kundenempfindens erfunden werden. Im Zuge dessen wurden auch die Produkte komplexer, die die Unternehmen herstellen. Beides, den Kunden das zu liefern, von dem er erst morgen beginnt zu träumen sowie die Notwendigkeit, sich gegenüber anderen Anbietern abzuheben, zwingt die Unternehmen, Mitarbeiter einzustellen, die nicht nur, eben wie in der Sklavengaleere, ausführen, sondern die mitdenken, qualifiziert sind und eigenverantwortlich unternehmerisch handeln – natürlich nur in bestimmten Grenzen (hier erkennt man prompt wieder die Hierarchie). Sofort haben wir es mit einem Arbeitsmarkt zu tun, der die gleichen Signale ausstrahlt, wie der eben angeführte Konsummarkt: Nicht nur der Kunde wurde entdeckt, sondern auch der individualisierte Mitarbeiter. Beide, zumindest im Sprachspiel, werden umworben, werden in den Himmel gehoben, werden geadelt, erhalten Macht: Man glaubt, dass man sie braucht. Einmal dieses Gespenst der «Eitelkeit» angesprochen, ist es nicht mehr einzufangen. Die Huldigung erfolgt, indem nun auf die Partizipationsanforderungen, im Sinne von Teilhabe an Entscheidungen, die entsprechenden Angebote gemacht werden. An genau dieser Stelle beginnen die Probleme des Managements, denn jeder Akt der Partizipation muss im Sinne eines Steuerungs- und Entscheidungsprozesses wieder eingefangen, zumindest aber kanalisiert werden, soll die klassische Hierarchie- und Steuerungsfunktion aufrechterhalten werden. Bereits hier wird erkennbar: Wirkliche Partizipation ohne eine Veränderung des Managements ist nicht denkbar.
Verschärft kommt hinzu, dass im Anschluss an die obigen Ausführungen zum Markt nun eine tatsächliche Notwendigkeit zur Partizipation entsteht, da die Organisationen auf Beobachtungen angewiesen sind, die sie alleine, also ohne andere «Beobachtungsposten», nicht leisten können. Es wird immer noch gerne gedacht, dass diejenigen, die in der Hierarchie «oben» sind, auch den Überblick über die Gesamtorganisation haben müssten; die Realität sieht anders aus. Beobachtungen sind stets nur Ausschnitte der eigenen Beobachtungsperspektive. Oder warum sollte beispielsweise ein Vorstandsvorsitzender mehr sehen und mehr wissen über die Sorgen, Nöte und Wünsche von Kunden, als ein Vertriebsmitarbeiter im Aussendienst? Partizipation an den Beobachtungen der anderen wird also zur Voraussetzung und Notwendigkeit für erfolgreiche Organisationsführung, wenn das bedeutet, die eigene Zukunftsfähigkeit sicherzustellen. Gleichzeitig gelangen genau dadurch Perspektiven in die Organisation, bezüglich derer sie bisher glaubte, dafür nicht zuständig sein zu müssen. Wer heute, gerade als Unternehmen, erfolgreich produzieren will, der muss sich mit gesellschaftlicher Kommunikation wie Ethik, Umweltschutz, Verantwortung, Trends, Kultur, Politik etc. auseinandersetzen und zu all diesen Punkten sogar eine Position beziehen. Das trägt einerseits zur Identitätsbildung bei, offeriert Chancen auf dem Markt (man weiss mit wem man es zu tun hat), bietet andererseits aber gleichzeitig Risiken (mit dem will ich nichts zu tun haben). Einmal sich positioniert, braucht es weitere Beobachtungen, um zu sehen, wer wie darauf reagiert, um entsprechend darauf wiederum reagieren zu können. Weitere Partizipation ist also von Nöten.
Weil es nun mehr von diesen «marktsensiblen» Beobachtungen braucht, ordnet das Management zunehmend Partizipation an. Das ist ungefähr genauso fruchtbar, wie Kreativität zu befehlen. Aber was bleibt ihnen anderes übrig, verfügt es offensichtlich nur über jene Mittel, die bislang die Hierarchie, also diese spezifische Beobachtungsperspektive, zulässt? Dabei übersieht es, dass mit der Partizipation, wenn es darum geht, Mitarbeiter wirklich an Entscheidungsprozessen teilhaben zu lassen, ein sozialer Umgang ins Leben gerufen wird, den es nicht wie ein Ein- und Ausschaltmechanismus bedienen kann. Wer Partizipation auslöst, muss Kapazitäten zur Verfügung haben, um daran partizipieren zu können. Es braucht eine Struktur, die die Beobachtungen und Ideen aufgreift, diese kommentiert und sichtbar macht, wie mit ihnen und der damit verbundenen Dynamik umgegangen werden soll. Für das Management bedeutet dies, dass ein neues Zeitalter angebrochen ist: Es muss lernen, wie es an der Partizipation oder genauer an den Partizipationsfolgen partizipieren kann. Das gleiche gilt für die Organisationen: Nicht die Mitarbeiter sind es, die an der Organisation partizipieren müssen, sondern die Organisation an den Beobachtungen der Mitarbeiter. Das ist die neueste Stufe der Partizipation, oder, um es modern auszudrücken, Partizipation 2.0.
Kontakt: Frank.Dievernich@bfh.ch
*bewirtschaftet vom Kompetenzzentrum für Unternehmensführung der Berner Fachhochschule, siehe www.unternehmensfuehrung.bfh.ch
ensuite, November 2009