Von Monika Schäfer - «Diese groben, fast trotzig hingezeichneten Linien! Alles schien mir so eindeutig auf diesen Bildern von arbeitenden und fleissigen Schweizern. Da werden keine Fragen gestellt, nichts wird angezweifelt. Ein Optimismus wird da verbreitet, der einen Heutigen krank machen kann.» Mit diesen harschen Worten beschreibt Bernhard Giger 1982 den Eindruck, der eine erste Sichtung des Fotoarchivs Paul Senns in ihm hinterlassen hat — Worte, die in Anbetracht von Senns immensem und vielfältigem Werk nur im Kontext der in den 1980er Jahren einsetzenden kritischen Aufarbeitung der Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg nachvollzogen werden können. Tatsächlich hatte Paul Senn (1901–1953) mit den siebzig Fotografien des 1943 erschienen Bildbandes «Bauer und Arbeiter» einen Beitrag für die geistige Landesverteidigung geleistet. Die jahrzehntelange Rezeption Senns als Schilderer des einfachen Schweizer Lebens wird dem vielgereisten und durchaus gesellschaftskritischen Berner Fotografen aber in keiner Weise gerecht. Im Rahmen des Paul-Senn-Projekts sind nun seit 2004 die Aufarbeitung des umfangreichen Nachlasses und die Revision der Rezeption Senns im Gange. Bei der vertieften Sichtung des Fotoarchivs und der Restaurierung und zeitlichen Einordnung der einzelnen Bilder und Negative ist sowohl in Vergessenheit geratenes als auch unbekanntes Material zum Vorschein gekommen. In der aktuellen Ausstellung im Kunstmuseum Bern, die gewissermassen als krönender Abschluss des Paul-Senn-Projekts gelten kann, werden unter anderem die zahlreichen Bildreportagen Senns in Erinnerung gerufen. So hat dieser der politisch links stehenden Illustrierten «Aufstieg» Fotografien für über 500 Reportagen geliefert. Darunter befinden sich etliche sozialkritische Beiträge, so zum Beispiel die Bildreportage Senns über die Ausbeutung von Kindern in der Schwefelmine im sizilianischen Villarosa. Interessant ist in diesem Zusammenhang Senns Arbeit für «Die Nation» unter der Leitung Peter Suravas. Die Kombination von Senns Bildern und Suravas eindringlichen Texten ist nicht nur bei der Leserschaft auf grosse Resonanz gestossen. So hat die erste gemeinsame Reportage «Kein Lohn — ein Hohn», ein Bericht über die erbärmliche Lohnsituation von Emmentaler Heimarbeiterinnen, eine gesamtschweizerische Diskussion über diese und ähnliche Missstände ausgelöst und schliesslich für die Emmentalerinnen zu einer Lohnerhöhung geführt. Paul Senn aufgrund solcher sozialkritischer Arbeiten als «concerned photographer» zu bezeichnen, greift jedoch zu kurz. Zu vielseitig ist sein Gesamtwerk, als dass man es nur einem Schlagwort zuordnen könnte. Dies wird anhand der Fotografien aus den krisengeschüttelten 1930er Jahren deutlich: Einerseits thematisiert Senn Arbeitslosigkeit, Altersarmut und spanische Flüchtlingsströme, andererseits schiesst er Bilder vom Schweizer Grand-Prix, Bergwinter und Simmentaler Fleckvieh. In der Berner Ausstellung ist auch Paul Senns in der bisherigen Rezeption vernachlässigter Leidenschaft fürs Reisen viel Platz gewidmet. Er besuchte unter anderem Spanien, Italien, Amerika und Kanada und brachte jeweils umfangreiches Bildmaterial mit nach Hause. Besonderes Anliegen bei seinen Amerikareisen waren ihm die Lebenssituation der Afroamerikaner und die Gemeinschaften ausgewanderter Schweizer. Eine Sensation stellen die im Archiv entdeckten über tausend, teilweise noch unbekannten Farbfotografien dar — Paul Senns Werk erhält dadurch einen besonderen Stellenwert in der Geschichte der Schweizer Farbfotografie. Einerseits setzte Senn die Farbe ein, um die Lebendigkeit der Menschenmassen am Strand von Coney Island zusätzlich zu betonen, andererseits gelangen ihm mit den beiden Touristinnen vor dem Grand Canyon und dem venezianischen Fischerboot mit gelben Segeln Bilder von grosser formal-ästhetischer Intensität. Die Frage nach dem künstlerischen Wert der oftmals im Auftrag von Zeitschriften für Fotoreportagen geschossenen Bilder stellt sich auch bei Paul Senn. Die Ausstellung im Berner Kunstmuseum, die die Arbeiten Senns aus ihrem publizistischen Zusammenhang herauslöst und zu Einzelbildern ästhetisiert, kann durchaus als Beitrag verstanden werden, Paul Senn nicht nur als Reporter, sondern auch als Künstler zu begreifen. Bernhard Gigers Aussage kontrastierend möchte ich sagen, dass die «Heutigen» an Paul Senns Fotografien sehr wohl ihre wahre Freude haben werden.
Bild: Paul Senn, FFV, KMB, Dep. GKS © GKS
ensuite, August 2007