Von Till Hillbrecht - Wenn im November jemand die Rosa Brille aufgesetzt bekommt, dann nicht als Geschenk von Amor an Frischverliebte. In diesem Fall nämlich handelt es sich vielmehr um den Filmpreis «Rosa Brille» für den besten Kurzfilm am schwul-/lesbischen Filmfestival QUEERSICHT. Queersicht, Sicht auf nichtalltägliches oder nichtalltägliche Sicht. Die Sicht ist das Format der Leinwand eines queeren Festivals. Sicht auf Queeres aus dem Inund Ausland, auf Dokumentar‑, Spielund Kurzfilme. Unterhaltend, vergnügend. Erschütternd.
Das älteste schwul/ lesbische Filmfestival der Schweiz steigt in diesem Jahr bereits zum neunten Mal und hat sich zu einem festen Kulturereignis in Bern gemausert. Für das Festival hat der Trägerverein Queersicht fünf Kinos und Kulturlokale eingespannt. Film und Rahmenprogramm findet im Kino ABC, Kellerkino, Kunstmuseum, der Reithalle und im Gaskessel statt. 40 Produktionen aus verschiedenen Ländern hat das Komitee für die diesjährige Ausgabe zusammengetragen.
Was ist das Ziel eines schwul-/lesbischen Filmfestivals? Filmperlen unterschiedlichster Art den Zugang ins Kino zu ermöglichen, die sonst an den Hürden der Intoleranz und der Zensur scheitern. Oder am Finanziellen. Queersicht gräbt tief in unbekannten Filmkisten und bringt uns Low-Budget-Kino, zum Beispiel aus Asien ( Yan Yan Mak: «Butterfly») oder Argentinien: «Un año sin amor» von Anahí Bernerí zeigt auf erschütternde Weise, wie heutzutage mit Aids umgegangen wird. Berneri schildert die Leidensgeschichte eines aidskranken, schwulen Autors, der in seiner Trauer langsam tiefer in die SM-Welt hinein gerät und sich schliesslich in ihr verliert.
Im Osten nichts Neues? ist Name und Pogramm des diesjährigen Festivalschwerpunktes. Der Osten im Aufbruch. Vieles mag besser werden, einiges bleibt wie es ist und manches verschlechtert sich. Die aktuelle Situation für Lesben und Schwulen indes ist verworren: So wurde in Polen zum zweiten Mal die Durchführung des Christophers Street Day verboten, während umgekehrt in Ungarn Lesben und Schwule eingetragene Partnerschaften eingehen können. Zeitgenössisches Ostkino unter anderem aus Russland und der Slowakei. ben dem aktuellen Filmschaffen wirft das Queersicht-Festival aber auch eine Retrospektive auf die Zeit vor dem Systemwechsel. «Coming Out» von Heiner Carow etwa gilt als erster bedeutender Schwulenfilm aus der ehemaligen DDR: Ein Zeitzeuge sowohl historischer Ereignisse als auch damaliger homosexuellen Paradigmen.
Um diesem schwierigen und grossen Rahmen gerecht zu werden wird unmittelbar vor dem Festival ein viertägiges Pre-Festivalprogramm in Salecina durchgeführt. «Warming-up for exchange» nennt sich das Treffen in den Schweizer Alpen, das darauf zielt, ostund westeuropäisches Filmschaffen zusammenzubringen. Politisch und kulturell engagierte Personen aus osteuropäischen Ländern finden hier einen Austausch von Erfahrungen, die sie beim Realisieren von Festivals und Filmen unter widrigsten Umständen gemacht haben. Während dem Festival werden die Ergebnisse aus Salecina am «Open Forum» gezeigt und diskutiert.
Neues für alle Weg von der Ostthematik und hin zur Wollust führt der Videovortrag von Manuela Kay: Wie drehen wir gute lesbische Pornos? Dabei geht es um sachliche Kriterien wie Authentizität, Schauspielkunst und den Scharfmach-Faktor. Die Berliner Filmmacherin muss es wissen: Sie ist unter vielem anderen Autorin des Werkes «Schöner kommen», das Sexbuch für Lesben. Aber auch eine ganze Reihe anderer Leckerbissen im Rahmenprogramm des Festivals verkürzen dem Cineasten die Filmpausen: Podiumsdiskussionen, die Queersichtlounge im Frauenraum, die Festivalparty am Samstagabend. Ein Wochenende lang wird Kultur geschaffen, die Bern gut tut. Schön unkonventionell, provokativ, erweiternd. Nicht nur wie die meisten Filme, ist auch das Festival an sich eine Low-Budget-Produktion. Aber: nicht billig gemacht. Sondern gewagt, ausgewogen, mit viel Umschwung. Queer eben.
Bild: Still aus «un año sin amor», zVg.
ensuite, November 2005