Von Luca Scigliano — Interview mit Claudio Baglioni, Übersetzung aus dem Italienischen von Luca D’Alessandro: Der italienische Liedermacher und Musiker Claudio Baglioni steht kurz vor seiner Welttournee «Un solo mondo – One World». Die vermutlich wichtigste Etappe ist für den 16. Mai im Kongresshaus in Zürich vorgesehen. An jenem Tag feiert der Cantautore seinen 59. Geburtstag: «Jedes meiner Konzerte ist ein Fest – so gesehen ist es ein wunderbarer Zufall, dass das Zürcher Konzert auf meinen Geburtstag fällt», sagt Baglioni im Interview mit ensuite-kulturmagazin. Doch sieht er nicht nur das Fest im Vordergrund, sondern vielmehr seine Mission, «die Menschen zu sensibilisieren.»
Sensibilisieren? Worauf?
Im Verlaufe der «One World Tour» werde ich mit Vertretern von Non Profit Organisationen und mit Kulturschaffenden aus aller Welt zusammenkommen, um mit ihnen Themen wie Armut und Integration zu besprechen. Ich bin als Botschafter unterwegs, der in den Menschen eine neue Sensibilität wecken will; ein Gespür für die Zusammenhänge in der Welt. Wir sollten die Welt miteinander teilen und nicht untereinander aufteilen. Denn nur gemeinsam können wir vermeiden, dass die Welt weiter zerstückelt wird. Ich bin überzeugt: Wir Italiener, die wir in der Vergangenheit viel in der Welt herumgekommen sind – sei es freiwillig oder unfreiwillig – können da einen wichtigen Beitrag leisten. Zumindest ist es ein Bedürfnis von mir.
Deine bevorstehende Tournee «One World» stellt dieses Bedürfnis in den Vordergrund.
Die «One World Tour» knüpft einerseits an die ganze musikalische Erfahrung an, die ich während der vergangenen 40 Jahre gesammelt habe. Zum Anderen verfolgt sie das Ziel, diese Erfahrungen nach aussen zu tragen und mit neuen Einsichten zu verbinden. Ich will Geschichten aufnehmen, Erlebnisse dokumentieren, mit denen ich am Ende ein ähnliches Bordbuch erstellen kann, wie es die zahlreichen Entdecker während der vergangenen Jahrhunderte taten. Die geschriebenen Gedanken will ich weitertragen, überall dahin, wo Italienerinnen und Italiener auf meine Lieder warten. Der Austausch mit den Menschen ist mir wichtig, denn nur so ist es mir überhaupt möglich, die eigenen Haltungen und Handlungen zu reflektieren, und: Ich lerne mich am Ende besser kennen. In der Auseinandersetzung mit diesen Kulturen werden soziale Spannungen sichtbar – Spannungen einer Welt, die gesamthaft gesehen, ein bisschen desorientiert dasteht, und die noch so viel zu berichtigen hat.
Welche Rolle spielst Du dabei?
Alles, was ich als Weltreisender machen kann, ist die eigene Reise zu dokumentieren und die Geschichten zu erzählen, die sich aus den Beobachtungen ergeben. Ich finde, ein Treffen unter Menschen bietet die beste Gelegenheit, selber ein besserer Mensch zu werden. Das Zusammensein führt dazu, Schönheit, Harmonie und Energien zu befreien.
Befreiung: Dieses Stichwort führt uns zu deiner Stiftung «O’scià».
Der Titel meiner Tournee steht unter einem ähnlichen Stern wie vor acht Jahren die Gründung der Stiftung «O’scià». Diese entstand damals eher durch Zufall, als ich am Strand auf Lampedusa lag und plötzlich zu singen begann. Der Stiftung gehören inzwischen 200 Musiker aus Italien und aus aller Welt an. Sie verfolgt das Ziel, die Gesellschaft auf die Probleme der Migrationsströme aufmerksam zu machen. Menschen, die aus politischen, wirtschaftlichen oder gesundheitlichen Gründen den Weg über das Mittelmeer in einer Nussschale auf sich nehmen in der Hoffnung, in Europa ein besseres Leben zu finden.
Was bedeutet «O’scià» eigentlich?
Im lampedusischen Dialekt bedeutet O’scià «mio respiro – mein Atem». Ein geflügeltes Word, das die Bevölkerung auf Lampedusa als freundschaftliche Grussformel verwendet – etwa wie «ciao» oder «hallo». Es ist verbindend. Das perfekte Symbol für eine Stiftung, welche die Verbindung der Kulturen zum Ziel hat. Ich bin der Meinung: Wo und wenn immer Kulturen sich treffen und vermischen, muss sich zwangsläufig eine bessere Kultur daraus ergeben, eine reichhaltigere Kultur. Die Treffen, an denen ich beteiligt bin, haben zum Ziel, die Leben und Schicksale der Menschen besser zu verstehen. Ich erfahre viel über ihre Beweggründe, die eigene Heimat zu verlassen, um das Glück ausserhalb – an einem fremden Ort – zu suchen.
Nach 40 Karrierejahren bist Du nun auf der Suche nach neuen Anregungen?
(lacht) Diese Treffen mit anderen Kulturen sind mit jenen Situationen vergleichbar, in denen ich mich mit anderen Musikern verabrede, um mit ihnen ein neues Projekt zu starten oder ein Stück gemeinsam einzuspielen. In diesen Konstellationen müssen wir uns jeweils neu kennenlernen und verstehen, welches Ziel wir am Ende gemeinsam erreichen wollen. Auch wenn wir alle anderer Herkunft sind oder anderen Stilen nachgehen: Sobald wir gemeinsam spielen, müssen wir uns an eine klar definierte Partitur halten. Es ist so ein bisschen wie das Orchester des Lebens oder das Orchester der Welt – es bietet das gewisse Etwas mehr. Es ist mit dem neunten Ton in einer Oktave vergleichbar.
Glücksmomente, wie Du sie in Deinem jüngsten Projekt «Q.P.G.A.» erleben durftest?
Ja, «Q.P.G.A.» lehnt sich an mein Album aus dem Jahre 1972: «Questo Piccolo Grande Amore». Es ist der Abschluss eines vierteiligen Projekts, bestehend aus einem Film, einem Roman, der gleichnamigen Tour und einer Doppel-CD, welche zwei Stunden und 50 Minuten dauert und Beiträge von 69 Musikern einschliesst, unter ihnen Ennio Morricone, Laura Pausini, Mina und Jovanotti. In diesem Projekt habe ich festgestellt, dass es zwar wunderbar ist, als Musiker und Komponist alleine unterwegs zu sein, es aber noch viel herrlicher ist, wenn man sich mit anderen Musikern konfrontieren darf.
Wie hast Du eigentlich diese 69 Musikerinnen und Musiker kontaktiert? Hast Du sie alle angerufen, zum Abendessen eingeladen oder ihnen eine E‑Mail geschickt?
Viele von ihnen kenne ich schon seit jeher. Man trifft sich an Festivals und Veranstaltungen. Einige habe ich im Rahmen von «O’scià» auf Lampedusa getroffen. Die übrigen habe ich in der Tat telefonisch oder per E‑Mail erreicht.
Und dann habt Ihr alle gemeinsam gesungen?
Nein, nicht mit allen habe ich eine Liveaufnahme realisiert. Wir haben eine digitale Samplingmethode angewendet. Ich weiss, diese Methode erweist sich sowohl als Fluch als auch als Segen für die Musikbranche: Zum Einen reisst sie die Qualität der Musik hinunter, zum Anderen kann sie aber auch sehr praktisch sein.
Ein Gedankenspiel: Du stehst kurz vor einem Konzert, begibst Dich langsam auf die Bühne, blickst in die Menge, die applaudiert und Deinen Namen ruft. Was geht in Dir vor?
Es ist sehr schwierig, diese Gefühle zu beschreiben. Es sind gewaltige Gefühle.
Haben sich diese Gefühle im Verlaufe Deiner 40-jährigen Karriere geändert?
Am Anfang geriet ich in Panik, wenn ich auf die Bühne musste (schmunzelt). Es gab Momente, in denen der Beifall des Publikums mich dermas-sen überwältigte, dass ich mich kaum mehr bewegen konnte. Ich erinnere mich an ein Konzert im vollgepfropften San Siro Stadion. Wenn mich heute jemand nach diesem Konzert fragen würde, könnte ich es nicht mehr beschreiben. Klar weiss ich, dass ich dieses Konzert gegeben habe, an die Einzelheiten vermag ich mich nicht zu erinnern. Zum Glück habe ich es geschafft, diese Gefühle in den Griff zu bekommen. Ich spüre gewissermassen ein Gefühl der Freude, wenn ich mich vor echten Leuten präsentieren darf. Denn, es ist nicht einerlei, ob man vor einem Publikum aus Fleisch und Blut spielt, eine Platte einspielt oder einen Auftritt im Fernsehen hat. Die Livesituation ist für einen Künstler nach wie vor die beste Erfahrung.
Deine Lieder sind schön und sinnlich, wenn auch einfach gehalten. Wie schreibst Du ein Lied?
Ich schreibe immer alleine. Das ist einerseits notwendig, zumal ich in mich hineingehen muss. Andererseits wäre ich manchmal froh, wenn ich in diesem Augenblicken jemanden vis-à-vis hätte, mit dem ich mich austauschen könnte. Das Merkwürdige ist, dass ich in diesen Dingen leicht bewusstseinsgespalten bin: Ich schreibe sowohl die Musik als auch die Texte separat. Anders gesagt: Fast immer schreibe ich zuerst den musikalischen Teil, bevor ich mich den Arrangements zuwende.
Mit dieser Methode fühlst Du Dich wohl?
Ja, weil ich beim Texten die Melodie und den Puls in mir spüre. Während des Komponierens kommt eine ganz aussergewöhnliche Stimmung auf.
Wie lässt sich diese beschreiben?
Es ist die Inspiration, die ich direkt der Musik entnehme. Bereits durch die Abfolge der Töne ergibt sich ein Text. Grundsätzlich macht ein Cantautore nichts anderes, als sich auf das eigene Leben zu besinnen. Ich schreibe nie Texte über Dinge, die mich unmittelbar bewegen. Ich orientiere mich vielmehr an Vergangenem. Ich sammle Dinge, die mich besonders betroffen gemacht haben und flechte sie in die Songtexte ein. Es ist nicht einfach, die eigenen Worte mit den Texten zu verbinden. Es gibt Stellen in meinen Liedern, musikalisch gesehen, die es mir nicht ermöglichen, das zu sagen, was ich genau an der Stelle sagen möchte. Thematisch würde das zwar passen, doch ist die musikalische Einbettung respektive das Metrum nicht das Richtige. Ich vergleiche mich mit einem Schreiner, der ein bestimmtes Holzstück in sein Möbel einbauen möchte, es aber nicht hinbekommt, weil die Form es ihm nicht erlaubt.
Ich stelle mir vor, dass Du mit dem Schreiben Deines Romans ähnliche Probleme angetroffen hast.
Ja, in der Tat (wir lachen).
Manchmal kommt es vor, dass einem beim Einschlafen ein Satz oder eine Stilfigur vorbeizieht.
Das ist auch bei mir so! Ich bin überzeugt, die Nacht hat eine magische Wirkung auf unsere Gedankenwelt. Eine Wirkung, wie sie der Tag nicht hat. Sobald ich eine Inspiration verspüre, muss ich aufstehen und den Gedanken umgehend auf Papier bringen. Früher hatte ich das Vertrauen, den Satz auch am nächsten Tag in meinem Kopf wiederzufinden. Doch merkte ich bald, dass es immer noch das Beste ist, solche Gedanken sofort festzuhalten. Daher schlafe ich immer mit Zeichenblock, Bleistift und der Gitarre an meinem Bett.
Gibt es einen Rat, den Du – als erfahrener Cantautore – jungen Musikerinnen und Musikern weitergeben möchtest?
Man muss immer am Ball bleiben, mit dem Lernen nie aufhören und neue Einflüsse zulassen. Eine Musikerkarriere hat nämlich nichts mit Zufall zu tun. Die Musik, die Worte, die Präsenz auf der Bühne – all das hängt zum Einen mit Talent zusammen, ist andererseits mit viel Arbeit verbunden. Sonst kommt bald einmal die Frage auf, weshalb gerade du auf der Bühne stehst und die Anderen davor. Von dem Moment an, an dem du eine Auszeichnung bekommst, musst du noch mehr aus dir herauskommen. Du musst immer wieder aufs Neue beweisen, dass du des Preises würdig bist. Preise gibt es nur, wenn Leidenschaft, Neugierde und Mut mitspielen. Anstatt zu befürchten, einen Fehler zu begehen, ist es klüger, hin und wieder einem neuen Gedanken nachzugehen. Das ist ganz wichtig.
Über Claudio Baglioni
Claudio Baglioni wurde am 16. Mai 1951 in Rom geboren. Seine Karriere als Musiker begann er 1964, als er in seiner Heimatstadt erfolgreich an zwei Gesangswettbewerben teilnahm. Heute zählt Baglionis Repertoire 28 Alben, die durch gefühlvolle Balladen, vorgetragen mit seiner leicht rauchigen Stimme, bestimmt sind. Sein wohl berühmtestes Lied ist das 1972 erschienene «Questo Piccolo Grande Amore», abgekürzt «Q.P.G.A.», der Titel seines aktuellen Projekts.
FilmOpera «Q.P.G.A.»
Sie sieht sich wie ein Film und hört sich wie eine CD: Die DVD-Film-Opera «Q.P.G.A.» ist die aussergewöhnlichste Kombination aus CD- Video-Clip in der Geschichte der populären Musik überhaupt. Sie verwandelt das vierfache Projekt – Film, Buch, Album und Tour – in das Video-Event 2010.
Konzert in der Schweiz
Claudio Baglioni steht am Sonntag, 16. Mai 2010 auf der Bühne des Kongresshauses Zürich.
Info: www.baglioni.it
Foto: Guido Tognetti
ensuite, Mai 2010