Von Anna Vogelsang - Ron Mueck in Paris: Es ist die ewige Frage: «Was unterscheidet einen guten Handwerker vom Anderen, der zum Künstler avanciert? Bei den alten Meistern erübrigt sich dies: Was nach Jahrzenten, Jahrhunderten noch begeistert, ist heute schlicht und einfach Kunst und nicht einfach ein Bild, ein Mosaik oder eine Gartenskulptur. Wer aber nicht Jahrzehnte bis zur Anerkennung warten will, macht es heute anders: Singt sich an unzähligen Wettbewerben die Seele aus dem Leib, platziert selbstgebastelte Videos im Internet oder macht ein paar Bilder, stellt diese in einem Raum aus, ladet am besten noch einige Prominente People-Persönlichkeiten ein und … wird «Künstler» genannt. So geht das. Ah ja, eine eigene Website, Twitter- und ein Facebook‑, respektive Myspace-account müssen noch her. Ron Mueck hat einen anderen Weg gewählt, und ist sich auch nach der Anerkennung durch die Welt treu geblieben.
Gross, blass, drahtig und irgendwie in sich versunken – so wirkt Ron Mueck. Seit einigen Jahren gibt er keine Interviews, hat keine eigene Website, und wenn Sie ihn an seiner Ausstellung persönlich ertappen möchten lohnt es sich nicht an die Vernissage zu gehen, sondern ein paar Tage vorher in der Galerie aufzukreuzen, während die Aufbauarbeiten im vollen Gang sind. Diese Verweigerung der Kommunikation lädt uns, das Publikum ein, die Werke ohne Vorschriften und Andeutungen des Künstlers frei zu rezipieren und zu interpretieren. Keine Interpretation kann falsch sein.
Um die hyperreale Welt von Ron Mueck kennenzulernen, lohnt sich ein Ausflug nach Paris und der Besuch der Fondation Cartier pour l’art contemporain. Bis zum 29. September 2013 läuft dort die zweite Pariser Einzelausstellung des in London lebenden australischen Künstlers. Von den insgesamt knapp 40 Mueck-Werken sind neun ausgestellt, darunter sechs völlig neue Kreationen.
1958 in Melbourne geboren wuchs Ronald (Ron) Mueck in einer Familie deutscher Auswanderer auf. Beide Eltern waren Spielzeugmacher, und der Sohn lernte das Handwerk im Atelier des Vaters. Ohne eine Kunstschule absolviert zu haben begann Ron als Puppenbauer und Puppenspieler im australischen Kinderfernsehen für die Show «Shirl’s Neighborhood» zu arbeiten. Von da wurde er im Alter von 24 Jahren von Dave Goelz als Assistent und Puppenspieler für Dreharbeiten von Produktionssegmenten von Jim Henson’s «Fraggle Rock» engagiert. 1982 zog Mueck nach London, um als Puppendesigner und Puppenspieler definitiv in den Produktionen von Henson’s Creature Shop zu arbeiten: «Fraggle Rock», «Dreamchild» (unter der Regie von Gavin Millar, 1985), «The Tale of the Bunny Picnic» (1986), «Jim Henson’s The StoryTeller», «Puppetman» (od. «Dragon Time», 1987) und «The Ghost of Faffner Hall» (1989). 1985 kreierte und verkörperte er Ludo, ein Riesenmonster mit sanftem Gemüt in Jim Henson’s Kult-Spielfilm «Labyrinth» (mit David Bowie und Jennifer Connelly in den Hauptrollen, 1986). Ausserdem wurde er in die Arbeit des Design-Teams des NY Muppet Workshop involviert. 1990 gründete Mueck eine Agentur, mit der er zum Teil hyperrealistische Plastiken für Werbefotographie herstellte.
Das Leben als welt-anerkannter Künstler begann für Ron Mueck mit einer Pinocchio-Puppe. Aber nicht aus Holz, sondern aus Fiberglas. 1996, in Vorbereitung der Ausstellung für die Londoner Hayward Gallery, brauchte Paula Rego – Muecks Stiefmutter, eine der bedeutendsten Gegenwartskünstlerinnen Englands – ein Modell für ihr neues Bild, einen Pinocchio. Kurzerhand bat sie Ron, ihr zu helfen. Mueck fertigte einen hyperrealen Pinocchio an – einen Knaben mit lockigem, braunem Haar und schelmischem Blick.
Es ist gewiss kein Zufall, dass eines Tages in Regos Atelier der britische Werbemogul und Kunsthändler Charles Saatchi erschien, hatte doch Paula Rego schon 1994 in The Saatchi Gallery in London ausgestellt. Der Kunsthändler sah die Arbeit von Mueck und erkannte deren Potenzial. Saatchi war es denn auch, der 1997 in seiner Ausstellung «Sensation – young britisch Artists from the Saatchi Collection» zu Muecks Durchbruch verhalf, indem er seine Skulptur «Dead Dad» – die einen Meter grosse Kopie vom nackten Körper seines verstorbenen Vaters – ausstellte. Die Teilnahme 2001 an der 49th Venice Biennale unter Direktion von Harald Szeemann, an der Muecks fast fünf Meter grosser «Boy» für Furore sorgte, festigte seine Position in der ersten Liga der Gegenwartskünstler. Seither stellte er an zahlreichen Einzelausstellungen in London, Paris, New York, Sydney und Mexico City aus. So wechselte Ron Mueck vom Erschaffen von flauschigen, farbenfrohen Fantasietierchen zu (oft) nackten, (meistens) blassen hyperrealen Menschenabbildungen, an denen alles «echt» zu sein scheint: Haut mit Poren, Falten und Härchen, Augen und Nägel.
So spielt Mueck auch mit der Realität: Die hyperrealen Plastiken gaukeln uns vor, sich tatsächlich plötzlich zu bewegen oder sogar zu sprechen. Und gleichzeitig wissen wir genau, dass dies nicht der Fall ist. Trotzdem ertappen wir uns beim Betrachten immer wieder dabei, drehen uns um um zu überprüfen: Hat mich dieser Mann im Boot jetzt angestarrt? Hat er etwas gemurmelt hinter meinem Rücken?
Fast in allen Arbeiten von Mueck lebt tiefe, endlose Melancholie. Diese Skulpturen haben nichts mit der fantastischen Welt von Fraggle Rock und den Muppets zu tun. Eher erkennen wir in Muecks Plastiken Personen aus unserem Alltag. Als ProtagonistInnen dienen dem Künstler Passanten, die er fotografiert, ein Foto aus einem Magazin, jemand aus seinem Bekanntenkreis, oder überhaupt keine realen, sondern Fantasiepersonen. Auch eine Geschichte oder ein Mythos kann als Ausgangspunkt dienen. Mueck arbeitet so gut wie nie mit Modellen, die für ihn posieren. Um eine bestimmte Körperhaltung oder einen Körperteil richtig zu erfassen, werden Fotos aus Internetrecherchen oder das eigene Spiegelbild herangezogen.
Doch wie die Muppets leben, so leben auch die Plastiken von Mueck aus Fiberglas und Silikon. Wir können deren Dialogen (Two Women, Couple under an Umbrella, Young Couple) oder deren inneren Monologen (Man in a Boat, Youth, Woman with Shopping) lauschen. Hier kommt die alltägliche Tragik, die «Tragik des kleinen Menschen» wie bei Nikolaj Gogols Helden zum Vorschein. Da steht ein junges Paar ganz eng zusammen (Young Couple, Edition 1/1, 2013, mixed media). Es scheint, dass der Mann seiner Freundin etwas ins Ohr flüstert und sie aufmerksam zuhört. Wenn wir aber um das Paar herum gehen entdecken wir, dass der Mann die Hand der Frau hart packt, und sie scheint zu versuchen, sich zu befreien. Stiller, nicht ausgesprochener Konflikt, stiller Kampf mit den Gefühlen, Wünschen und Pflichten. Diese unterdrückte Zwiespältigkeit und Angst finden wir fast in jedem Werk von Mueck.
Die Skulpturen von Mueck sind nie lebensgross. Der Künstler erklärt dies in einem der seltenen Interviews: «I never made life-size figures because it never seemed to be interesting. We meet life-size people every day» (Skulpture, Vol. 22, No.6, 2003). Mueck schafft seine Plastiken nicht für einen bestimmten Ort oder Raum. Das Spiel mit der Grösse ist immer kontrolliert und absichtlich. Durch die Veränderung der Proportionen – Raum, Menschen-Skulpturen vs. Menschen-Besucher – appelliert Mueck an unsere Aufmerksamkeit und beeinflusst unsere Wahrnehmung.
In einem Ausstellungsraum der Fondation Cartier wird ein fast einstündiger Portrait-Film gezeigt. Mueck erlaubte einem jungen Filmemacher, dem Fotographen Gautier Deblonde, ihn während 18 Monaten unter ganz klaren Bedingungen in seinem bescheidenen Atelier im Norden Londons zu filmen: Keine Fragen, keine Dialoge und keine Kommentare. So entstand der einstündige Film «Still Life: Ron Mueck at Work». Diese Produktion ist der erste Film von Deblonde. Der Streifen fällt eher unter die Definition «Kunstfilm» oder «Lehrfilm», nicht unter «Dokumentarfilm» wie wir ihn kennen. Denn er hat kein Skript, erzählt keine Geschichte, hat keine Dialoge oder Monologe. Nur das Radio läuft dauernd im Hintergrund und «provoziert» die Assistentinnen des Künstlers zu einem kurzen Lachen oder Kommentar. Die Stadien der Arbeit werden fragmentarisch dokumentiert: Von Skizze und Tonprototyp bis zur Pigmentierung der Endobjekte, dem Färben der Augen und Einsetzten der Haare – eines nach dem anderen. Ob dieser Film Ron Mueck wirklich einen guten Dienst erweist ist fraglich. Er zeigt nur einen einzigen emotionalen Ausbruch des Künstlers, als er ziemlich zornig flucht weil ein Teil der Arbeit nicht klappt. Sonst agiert Mueck ohne Mimik, ohne Gespräche mit seinen zwei Assistentinnen und ohne Dialoge mit dem Filmer.
Man kann die Arbeiten von Ron Mueck anerkennen, mögen oder eben nicht. Man kann sie als kraftvoll und schön oder leblos, hässlich und repetitiv empfinden. Aber bitte, man vergleiche sie nie mit den Wachsfiguren aus «Madame Tussauds Kabinett»! Oder kann sich jemand vorstellen, dass Mueck lebensgrosse Figuren eines breit lachenden und winkenden William und der schwangeren Kate präsentieren würde? Sorry, ich kann das nicht.
Foto: L. Vogelsang
ensuite, Juni/Juli 2013