Reality-History: Wie Deutschland Putins Krieg bezahlt

Von Dr. Reg­u­la Stämpfli - Es gibt Rezen­sio­nen, die man mit Bedacht schreibt, vielle­icht sog­ar mit Respekt vor der akribis­chen Arbeit eines Autors, und dann gibt es solche, die man mit der Wucht ein­er Pipeline ins Papi­er rammt. «Nord Stream: Wie Deutsch­land Putins Krieg bezahlt» ist ein Buch, das so was aus­löst, nicht weil es absurd oder schräg wäre, son­dern weil es sich mit ein­er Real­ität beschäftigt, die so grotesk ist, dass sie sich wie eine Hal­luz­i­na­tion anfühlt: Es geht um Deutsch­land und sein dick­es Gas­rohr direkt in den Kreml, Würge­griff des Autokrat­en inklu­sive.

Man stelle sich das mal vor: Es gibt eine mächtige Indus­trien­ation, deren poli­tis­che Elite sich frei­willig und pub­likumsstark in eine tox­is­che Umar­mung mit einem Dik­ta­tor beg­ibt. Her­aus kommt ein dun­kles Märchen, in dem wirtschaftliche Abhängigkeit als Diplo­matie und Frieden verkauft wird, während die beteiligten Autokrat­en für den Krieg gegen den West­en aufrüsten und darin bis heute sehr erfol­gre­ich sind. «Sto­ries are made in gas» – eine Kurzver­sion für schreck­liche deutsche Gegen­warts­geschichte.

Stef­fen Dob­bert und Ulrich Thiele schreiben einen echt­en Kri­mi, und kein Wun­der, ist der Titel im Präsens gehal­ten: «Nord Stream. Wie Deutsch­land Putins Krieg bezahlt». Dob­bert und Thiele haben eine klare These, die sie mit Fak­ten, Sta­tis­tiken, Pro­tokollen, minu­tiösen Aufze­ich­nun­gen im Tage­buch­stil bele­gen: Deutsch­land hat mit seinem uner­sät­tlichen Gashunger Putins Krieg mit­fi­nanziert, ja vielle­icht sog­ar mitini­ti­iert. Klingt drastisch? Ist es auch. Doch wer jet­zt erwartet, dass sie sich hin­ter seit­en­lan­gen ökonomis­chen Analy­sen oder diplo­ma­tis­chen Fein­heit­en ver­steck­en, irrt. Die Sprache ist klar, schnei­dend, der Ablauf wie ein Kri­mi mit Empörungspoten­zial. Man spürt, wie sehr sich Dob­bert und Thiele darüber ärg­ern, dass Deutsch­land den wirtschaftlichen Selb­ster­hal­tungstrieb vor alle gemein­schaftlichen Inter­essen Europas und des West­ens gestellt hat. Die let­zten 20 Jahre betreibt Deutsch­land Poli­tik mit ein­er Mis­chung aus Naiv­ität, Hybris, Klugscheis­serei und glob­al auftre­tender Arro­ganz. Die AkteurIn­nen auf dem glob­alen Par­kett waren u. a. Gerd Schröder, Angela Merkel und Frank-Wal­ter Stein­meier. Die ersten zwei sind passé, der andere immer noch als Staat­spräsi­dent tätig, hor­ri­bile dic­tu.

«Nord Stream» lässt keine Zweifel daran, wer die Architek­ten dieses Fiaskos waren. Schröder, der Putin-Ver­ste­her in Nadel­streifen, der sich nach sein­er Kan­zler­schaft wie ein altern­der Rock­star ins Gazprom-Spon­sor­ing ver­ab­schiedete. Merkel, die Physik­erin mit einem Faible für rus­sis­ches Gas und ein­er fatal­en Igno­ranz gegenüber den War­nun­gen aus Osteu­ropa. Stein­meier, der ewige SPD-Appa­ratschik, ein­er, der immer irgend­wo im Hin­ter­grund sass, wenn Deutsch­land den his­torischen Fehlern grad wieder mal neue hinzufügte. Stein­meier war dabei, als Schröder Putin umarmte, er war dabei, als Merkel die Energiewende mit rus­sis­chen Pipelines ver­wässerte, er ist immer zuvorder­st, wenn es darum geht, sich in moralis­ch­er Über­legen­heit zu suhlen.

«In Schw­erin wird in der Post­stelle der Staatskan­zlei ein rot­er Brief abgestem­pelt. Rus­sis­che Brief­marken kleben auf dem Umschlag. Im Inneren liegt eine handgeschriebene Karte für die Min­is­ter­präsi­dentin. Der Text endet mit ‹her­zlichen Grüssen aus einem ver­schneit­en Moskau›.» Manuela Schwe­sig, Min­is­ter­präsi­dentin von Meck­len­burg-Vor­pom­mern, ist die glück­liche Empfän­gerin des roten Briefes. Diese Mis­chung aus Schröder’schem Machter­hal­tungsin­stinkt und Merkel’scher Flex­i­bil­ität eines «Ich habe ver­standen», nur um dann weit­erzu­machen wie bish­er. Sie gehört auch zum Per­son­al. Sie war der Kopf der ominösen «Kli­mas­tiftung MV» – genialer Spon­sor­ing-Sprech für die rus­sis­che Gaslob­by im Tarnkap­pen­modus.
«Nord Stream» ist ein Thriller mit Bösewicht­en, die so nor­mal sind wie du und ich. Tragisch an der Geschichte ist die Ohn­macht, die alle Akteure und Akteurin­nen auf deutsch­er Seite umwe­ht: Es ist, als hät­ten die Entschei­der keine andere Wahl gehabt, als sich dem starken Mann im Osten ein­fach anzuschliessen. Dabei war alles ganz anders. An jed­er Weg­marke hätte eine andere, prow­est­liche, anti­au­tokratis­che, prodemokratis­che Rich­tung eingeschla­gen wer­den kön­nen. Es war nicht so, dass es an War­nun­gen von den Polen, den Bal­ten und den Ukrain­ern gefehlt hätte, im Gegen­teil. Sie haben regel­rechte Attack­en geführt, um Angela Merkel von ihrem Kurs abzubrin­gen, doch ohne Erfolg. Aus­gerech­net die Ost­deutsche Angela Merkel ver­traute für Nord Stream 2 dem aus dem KGB stam­menden Appa­ratschik. Mit einem Trick hat­te Putin schon Schröder zu Nord Stream 1 überre­det. Sein Gaspipeli­nesys­tem, behauptete Putin, während der deutsche Bun­deskan­zler Ger­hard Schröder zu Besuch war, sei «eine Schöp­fung der Sow­je­tu­nion». Dies war schlicht gel­o­gen und unter­schlug die 39 000 Kilo­me­ter Pipeline, die der Ukraine gehörten.

Gazprom wurde zu Putins Unternehmen sowie Rus­s­land unter Putins Gnaden reor­gan­isiert wurde. Gazprom ist aber nicht nur rus­sisch, son­dern war bis im Okto­ber 2022 auch schweiz­erisch. Nord Stream wurde über Finanz- und Ver­trags­di­en­stleis­tun­gen in der Schweiz abgewick­elt – davon berichteten unsere Medi­en aus Angst vor Strafanzeigen, Kla­gen und ver­ständlichem Respekt ein­er Gross­macht gegenüber wenig. Erst nach dem Ein­marsch der Russen in die Ukraine wurde Gazproms Geschäft­stätigkeit im Okto­ber 2022 eingestellt. Gazprom ist eben nicht nur Gas, son­dern umfasst Banken, Flug- und Ver­sicherungs­ge­sellschaften, Invest­ment-Fonds, Bau­un­ternehmer mit eigen­er Pri­vatarmee. Ach ja, und das Wichtig­ste hätte ich fast vergessen: Gazprom kon­trol­liert die wichtig­sten rus­sis­chen Medi­en.

«Gazprom ist ein post­sow­jetis­ches Hybrid-Gebilde, das aus Wirtschaft, Poli­tik und Geheim­di­enst beste­ht. Nie­mand auss­er Putin weiss, wo das Unternehmen Gazprom endet und die ein­flussre­ich­ste Waffe des Putin­is­mus begin­nt.» Als die Ukraine sich von Rus­s­land unab­hängig erk­lärte, wurde das Gas gedrosselt. Rus­s­land erk­lärte diese Mass­nahme mit «Dieb­stahl der rus­sis­chen Pipeline». Schon die Sow­jets hat­ten immer die besten Gründe, wenn es darum ging, den Geg­n­er auszuschal­ten. Die Medi­en fol­gten nick­end.

Vor allem an Deutsch­lands Öffentlichkeit gerichtet, begin­nt der nar­ra­tive Feldzug gegen die Ukraine und ist erfol­gre­ich. Vor allem im öffentlich-rechtlichen Rund­funk, wie Dob­bert und Thiele fes­thal­ten. Dies, weil der Filmemach­er Hubert Seipel über unap­peti­tliche Ver­strick­un­gen, Briefkas­ten­fir­men und so den direk­ten Draht von und zu Putin hat­te. Neben Jour­nal­is­mus kaufte Putin auch Poli­tik ein. 15 Tage nach Beendi­gung seines poli­tis­chen Man­dates heuerte Schröder bei Gazprom an. 250 000 Franken jährlich war sein Salär. Dob­bert und Thiele recher­chierten gut, doch eines ging ihnen durch die Lap­pen: das jour­nal­is­tis­che Engage­ment von Gerd Schröder beim ein­flussre­ichen Ringi­er-Ver­lag. Von 2006 bis 2022 war Schröder gern gese­hen­er Gast bei Ringi­er: als Putin-Kumpel, Ein­flüster­er und Staats­mann, dem Ringi­er unzäh­lige Exk­lu­siv­in­ter­views gab – so schreibt es auch die NZZ. Die pol­nis­chen Medi­en kom­men­tieren die Man­date von Gerd Schröder ernüchtert als die «grösste Kor­rup­tion­saf­färe» in Europa. Das Pub­likum von ARD und ZDF, Deutsch­land­funk, Arte etc. erfuhr davon her­zlich wenig, zu sehr waren die Öffentlich-Rechtlichen damit beschäftigt, postkolo­niale Diskurse zu bedi­enen.

Die Fak­ten sind so klar wie bit­ter: Nord Stream 1 wird zum vollen Erfolg für Putin und füllt ihm seine Kriegskasse. Gle­ichzeit­ig sind ihm die Nar­ra­tive wohlwol­lend gesin­nt: Angela Merkel und ihre Entourage sor­gen dafür; Deutsch­land soll mit Chi­na und Rus­s­land weit­er­hin an der Spitze der Export­na­tio­nen bleiben – Demokratie hin oder her. Nord Stream 2 wurde genau gle­ich geplant. Dob­bert und Thiele erzählen im Tage­buch­stil, wie dies geschah. Nord Stream 2 wurde als «rein wirtschaftlich­es Pro­jekt» verkauft, während in Wahrheit eine geoökonomis­che Atom­bombe gezün­det wurde. Manuela Schwe­sig, Min­is­ter­präsi­dentin in Meck­len­burg-Vor­pom­mern, verkauft der deutschen Öffentlichkeit eine sog. «Kli­mas­tiftung».

«Die Stiftung und NSP2 haben am 29.12.2020 (…) einen Koop­er­a­tionsver­trag sowie einen Kaufver­trag (…) geschlossen», heisst es in einem inter­nen Papi­er der Stiftung. «Kli­maschutz sei der zeitlich unbe­fris­tete Hauptzweck, erk­lärt Schwe­sig, der wirtschaftliche Geschäfts­be­trieb der Stiftung hinge­gen nur ein tem­porär­er Neben­zweck. Tat­säch­lich wird die Stiftung vor allem den ver­meintlichen Neben­zweck nutzen: Für den Kli­maschutz wird die Nord Stream 2 AG eine Zuwen­dung in Höhe von zwanzig Mil­lio­nen Euro geben, für den wirtschaftlichen Geschäfts­be­trieb zur Fer­tig­stel­lung der Pipeline wer­den es 174 Mil­lio­nen Euro sein. Die Stiftung wird wie eine poli­tis­che Fir­ma oder wie ein kleines Gazprom fungieren, ein Hybrid-Gebilde, das aus Wirtschaft, Poli­tik und ‹Nord­stream­lern› beste­ht und bei dem kein Aussen­ste­hen­der weiss, ob Entschei­dun­gen in der Zen­trale der Nord Stream 2 AG, in Schw­erin oder gar im Kreml getrof­fen wer­den.»

Das Pro­jekt ging wider­stand­s­los über die Bühne – AfD, CDU und die Linke macht­en mit. Der Mord­ver­such an Alex­ei Nawal­ny, Rus­s­lands Krieg gegen die Ukraine im Jahr 2014, der Tier­garten­mord, der Hack­eran­griff auf den deutschen Bun­destag – alles wird ver­schwiegen, nicht the­ma­tisiert, fällt unter Busi­ness as usu­al. Die deutschen Mit­tä­terin­nen und Mit­täter bei Putins Kriegsvor­bere­itun­gen macht­en der Welt vor, alles gehe gut, dem rus­sis­chen Kriegstreiber sei zu ver­trauen, gefährlich kön­nte eher die NATO oder der Faschis­mus der Ukrainer­in­nen und Ukrain­er (!) sein.

Dann kam die Inva­sion am 24. Feb­ru­ar 2022. Eigentlich hät­ten alle Beteiligten, inklu­sive Bun­deskan­zler Scholz und Frank-Wal­ter Stein­meier, zurück­treten müssen. Aber nein, es regierte die organ­isierte Ver­ant­wor­tungslosigkeit. Angela Merkel schweigt zu Putin so wortre­ich, wie nur sie es kann. Scholz und Stein­meier hal­ten sich an der Macht, nicht zulet­zt auch dank dem antifaschis­tis­chen Kampf der Medi­en gegen die USA.

Und Deutsch­land, die Nation, die sich jahrzehn­te­lang an bil­ligem rus­sis­chem Gas berauscht hat, durch­lebt nach der bish­er nur speku­la­tiv gek­lärten Sab­o­tage der Pipeline Nord Stream 2 die grösste Energie- und Indus­triekrise der Geschichte seit dem Zweit­en Weltkrieg. Und was macht die Ampel-Regierung gle­ichzeit­ig? Sie vol­lzieht unter falschen Vor­gaben, wie der Unter­suchungsauss­chuss im Jan­u­ar 2025 zeigte, den Ausstieg aus der Atom­en­ergie und schal­tet das weltweit beste, sich­er­ste und effizien­teste Atom­kraftwerk Isar 2 ab. Die Fol­gen dieser Poli­tik dauern bis heute an: Infla­tion, dro­hende Rezes­sion, Dein­dus­tri­al­isierung Deutsch­lands und Auf­stieg mehrerer Putin-Parteien, vom Bünd­nis Sahra Wagenknecht bis hin zur AfD.

«Frieden für Gas» ist die Parole für das 21. Jahrhun­dert in Deutsch­land. Deshalb sind in Deutsch­land die Stim­men in der Mehrheit, die auf die Rück­kehr zu «nor­malen» Ver­hält­nis­sen pochen: gute Fre­und­schaft mit den Autokrat­en im Osten, grosse Dis­tanz zu den Ver­bün­de­ten in den Vere­inigten Staat­en. Nord Stream war in diesem Zusam­men­hang nie ein­fach ein harm­los­es Unternehmen; es bleibt bis heute ein geopoli­tis­ches Desaster, ein per­fider Coup, der nicht nur die Ukraine an den Abgrund treibt, son­dern, wie wir dies mit Schreck­en beobacht­en, auch Deutsch­land.

Alex­ei Nawal­ny schrieb im Gefäng­nistage­buch im März 2022: «Die Wahrheit ist, dass wir unter­schätzen, wie wider­stands­fähig Autokra­tien in der mod­er­nen Welt sind. (…) Rus­s­land, das derzeit einen klas­sis­chen Angriff­skrieg gegen die Ukraine führt (was die Vorher­sagen eines bevorste­hen­den Zusam­men­bruchs des Regimes verzehn­facht hat), wird zusät­zlich durch seine Mit­glied­schaft im UN-Sicher­heit­srat und seine Atom­waf­fen geschützt.» Alex­ei Nawal­ny bezahlte seinen Ein­satz für Demokratie und Frei­heit am 16.2.2024 mit seinem Leben.

«Nord Stream. Wie Deutsch­land Putins Krieg bezahlt» von Stef­fen Dob­bert und Ulrich Thiele ist keine leichte Kost, aber sehr süf­fig zu lesen. Es ist ein Weck­ruf, ein Schlag ins Gesicht für all jene, die noch immer an die Mär vom «Wan­del durch Han­del» glauben. Die Sprache ist scharf, die Analyse gnaden­los, der Ton oft bit­ter. Wer immer noch denkt, dass Deutsch­land nur Opfer ein­er clev­eren rus­sis­chen Strate­gie war, wird hier eines Besseren belehrt: Es waren namhafte Akteure, zum Teil immer noch an der Macht, öffentliche Insti­tu­tio­nen und die Kom­plizen­schaft von Medi­en, die die falschen The­men portieren, die das Desaster als Mit­täter zu ver­ant­worten haben.

Die einzige Frage bei der Lek­türe von «Nord Stream» war für mich: Wie zur Hölle kon­nte es so lange dauern, bis wir alle endlich die furcht­baren Fak­ten von dieser Geschichte aufgetis­cht kriegten? Und wie zur Hölle kommt es, dass die Ver­ant­wortlichen in keinem einzi­gen Fall zur Rechen­schaft gezo­gen wer­den?

 

Stef­fen Dob­bert, Ulrich Thiele: Nord Stream. Wie Deutsch­land Putins Krieg bezahlt. Clett-Kot­ta 2025.

Artikel online veröffentlicht: 1. März 2025 – aktualisiert am 19. März 2025