Martin Sigrist - Reeperbahn Festival 2013, Hamburg, 25.–28.9.2013: Nicht Sexshops und leichte Mädchen sind Ende September im Zentrum des Hamburger Nachtlebens. Ende September frohlocken Musiker, Fans und Geschäftsleute am Reeperbahn Festival. Nicht das grösste Club-Festival, auch nicht das letzte, aber doch eins für den Jahresabschluss.
Szenekenner, Musikafficionados und Businessleute tummeln sich alljährlich Ende September auf der sündigsten Partymeile Deutschlands, um sich vier Tage den Musikhut aufzusetzen. Beim etwas beschwerlichen Anfang der musikalischen Dauerorgie war dies Momente früher noch kaum zu erwarten, als die geladenen Gäste Sekt schlürfend und Häppchen verputzend zur offiziellen Eröffnung des 8. Reeperbahn Festivals dem Erstem Bürgermeister Olaf Scholz und dem Staatsminister für Kultur und Medien, Bernd Neumann lauschen durften. Der ehemalige MTV-Moderator Ray Cokes steckte aber bei den ersten Musikern auf der Eröffnungsbühne den Rahmen ab, verlangte Respekt für die Künstler auf der Bühne und bat das Publikum um Ruhe. Ein Teil davon quittierte dies mit Applaus, und es wurde etwas ruhiger im Saal.
Der entspannte Reigen der Musikwelt war eröffnet. An mehr als 70 Spielorten buhlten 300 Künstler gleichermassen um die Gunst von Fans und Vertretern des Musikgeschäfts. Schnell wurde klar, dass sich neben der Musik auch das Big Business einen Weg durch das Musikgeschehen bahnte, man networkte, suchte vielversprechende Jungtalente und debattierte an Panels zu Themen wie Remixe, Crowdfunding und Management. Der Kulturtausendsassa und eine Hälfte von Eurythmics Dave Stewart präsentierte eine Bank als Unterstützung für angehende Künstler.
Konzertveranstalter und zahlreiche nationale Agenturen für Musik luden zu Happenings mit Essen und Trinken und meist auch etwas Musik. Die Schweiz präsentierte sich guthelvetisch mit Gipfeli und Raclette, um so dem gestärkten Publikum Exporte wie den Traumschwiegersohn Dagobert und die Indie-Jungs von We Invented Paris zu präsentieren. Die Basler Kapelle wurde danach von Ray Cokes an seine alljährliche Reeperbahn-Revue eingeladen, wo er jeden Tag seine Lieblingskünstler des Festivals präsentierte. Der Brite und das Publikum nahmen es mit Humor, als das Interview schlussendlich auf schweizerdeutsch geführt wurde.
Zahlreiche Booker und Festivalveranstalter waren unter den gegen 3’000 Fachbesuchern. Während James Minor mit dem US-amerikanischen SXSW das grösste Clubfestival der Welt vertrat, brachte Marcel Bieri vom Luzerner Alternativ-Festival B‑Sides weniger finanzielle Zugkraft mit. Beide freuten sich darüber, Bands live und so deren Konzertfähigkeiten zu erleben. Während Minor Bands aufzeigen wollte, wie sie das beste aus einem Besuch am SXSW machen können, da Touren in Nordamerika nicht einfach seien, standen für Bieri die persönlichen Kontakte im Vordergrund, um auch grosse Bands an sein kleines Festival zu bringen.
Das Musikprogramm kreiste um Pop, Electronica und Songwriter-Folk, ebenso war Klassik und sogar etwas Hip Hop zu hören. Dazu wurden neben den traditionellen Örtlichkeiten auch Theater, ein Zirkuszelt, eine Bank und etwa das Vereinsheim des Traditionsclubs FC St. Pauli bespielt. So konnten gleichzeitig neue Bands und Spielorte entdeckt werden. Mit etwas Offenheit, oder mit präziser Planung liessen sich sehr viele Konzerte sehen, nur ein kleiner Teil der Clubs musste vorübergehende Einlasstopps verhängen. Seien es die britischen Elektrobuben von MNRS, der irische Suizid-Singer-Songwriter James Vincent McMorrow, die Schulabbrecher-Popperin Chlöe Howl, der amerikanische Multiinstrumentalisten-Irrsinn Robert DeLong, die französischen Hipster-Elektroniker Juveniles oder die Retro-Locken von Antimatter People, das Programm war spannend, gut und umfangreich.
Für die Luzerner Alvin Zealot war es nicht einfach, ans Festival eingeladen zu werden, umso glücklicher waren sie, sich so ihr Territorium zu erweitern. Bereits eine deutsche Booking Agentur haben We Invented Paris, so dass sie sich entspannt auf die Mischung von Fans und Geschäft freuen konnten. Der nach ihrer Tour etwas übernächtigte Jens Moelle von Digitalism kam nur für das Konzert von DENA, um erstaunt zu entdecken, wie gross das Festival in seiner Heimatstadt geworden ist, und er begrüsste die Plattform, welche die Welt von Kunst und Geschäft zusammen bringt.
Trotz stetig steigender Besucherzahlen soll das Festival gemäss dem Leiter des Musikprogramms, Bjørn Pfarr, nicht um jeden Preis weiter wachsen, so dass der praktisch jederzeit mögliche Zugang zu allen Spielorten erhalten bleibt. Zusammen mit der Mischung an einzigartigen Clubs so nahe beieinander mache dies den Charme der Veranstaltung aus. Um diese nicht zu einer reinen Fachveranstaltung verkommen zu lassen, soll das Verhältnis zwischen Fach- und Festivalbesuchern so bestehen bleiben. In der Tat lohnt sich der weite Weg zu den vielen guten Bands, dem spannenden Ambiente und der entspannten Atmosphäre.
Foto: M. Sigrist
ensuite, Dezember 2013