Von Dr. Regula Stämpfli - Es waren die Frauen, die dem Russischen Zarenreich das Genick rachen. Sie demonstrierten am 23. Februar 1917 gegen die Kriegslasten, Krisen und unhaltbaren sozialen Zustände. Was als klassische «Brotunruhen» begann, endete in einer Weltrevolution.
In unserer schnell verglühenden Zeit ist die Bedeutung der Russischen Revolution für das gesamte 20. Jahrhundert ebenso unterschätzt wie die digitale Machtergreifung durchs Silicon Valley im 21. Jahrhundert. Feministinnen, Arbeiterinnen, Bäuerinnen, Sozialistinnen und häusliche Dienstangestellte konstituierten mächtige Bewegungen vor über 100 Jahren – nur redet niemand mehr davon, weil nicht die Idee, sondern die Militär- und Ideologiestrategen gewannen. Leider war nämlich dieser schmächtige und eher kränkliche Genosse Lenin, dessen Geist im kapitalistischen Zürich gestählt wurde, in der Mutter aller Revolutionen, der Russischen, erfolgreich. Niemand hätte dies 1916 vorauszusagen vermocht. Selbst im Februar 1917 sahen die Karten für die bolschewistische Kommunistensekte unter dem Eiferer Wladimir Iljitsch gar nicht besonders gut aus. Hätte es gar das Deutsche Reich nicht gegeben – welch historische Tragödie –, wäre Lenin als unbekannter Wahnsinniger irgendwo in Europa, wahrscheinlich sogar in Fluntern auf dem Friedhof begraben worden.
Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges war die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, doch die Machtergreifung der Bolschewiki ist ebenso die Urkatastrophe für die soziale Frage. Nicht nur steht jeder Ruf nach Umverteilung nach 1917 im Ruf der totalitären Säuberungen, sondern auch in Russland selber ist jeder Wunsch nach Gerechtigkeit, sozialer Umverteilung nd Freiheit vergiftet. Die historischen Terror- und Foltererfahrungen, die nihilistische Mord- und Zerstörungslust der Genossen, die unglaublichen Säuberungsaktionen in den eigenen Reihen haben die Demokratisierung und die Emanzipation, die seit 1789 «en marche» waren, regelrecht gestoppt. In Russland wechseln sich seit mehreren Jahrhunderten die Sklavenhaltersysteme ab. Deshalb gilt das momentane Leben unter dem herrschenden Überwachungssystem, Putins «gelenkter Demokratie», für die ganz normale Frau von nebenan nicht als das schlechteste von allen.
Weshalb ich Ihnen dies erzähle? Lesen Sie Gerd Koenens «Die Farbe Rot». Es ist ein grosses Buch. Es erzählt von literarischen Utopien, von Sozialreformen, von Aufbruch, von Marx, von grossen utopischen und lebensnahen Gesellschafts- und Menschenentwürfen. Es erzählt ebenso, wie dieser Humanismus in Terror, Kunst in Propaganda, Wirtschaftspolitik in Hungersnot umschlagen konnte. Es erzählt auch von der Volksrepublik China: Wie der Kommunismus ebenso wie der Kapitalismus weder Freiheit noch Gleichheit noch Solidarität, sondern nur eine mächtige Elite mit entsprechenden finanziellen Mitteln braucht.
Gerd Koenen erzählt von der sehr engen deutsch-bolschewistischen Zusammenarbeit, die schon seit 1915 auf höchster Ebene bestand: Siehe da! Lenin war eigentlich deutsch, könnte man salopp formulieren. Womit die Ähnlichkeit in der bürokratisch-brutalen Herrschaft der nachfolgenden Diktaturen hüben und drüben inklusive Hitler-Stalin-Pakt auch schon ein bisschen erklärt ist.
Die Menschewiki oder auch die Sozialrevolutionäre waren im Vergleich dazu längst nicht so «deutsch». Ihre Utopien speisten sie aus der Französischen Revolution oder der angelsächsischen Demokratien. Doch die deutsche Generalstabsführung setzte sehr früh auf die radikale Revolutionierung des Vielvölkerreiches Russland. Mit der Entlastung im Osten schien der Sieg für den Kaiser doch noch möglich.
Auch die Schweiz prägte die Russische Revolution stark mit. Von der Zimmerwaldner Konferenz 1916 schreibt Lenin: «Wer eine ‹reine› soziale Revolution erwartet, wird sie niemals erleben.» Was im Klartext nichts anderes heisst als: Revolution ja, soziale Gerechtigkeit nein. Lenin kam dank Schweizer Genossen und deutschen Generälen zurück nach Russland, wo er dann mit einem wirklich kleinen Kontingent von Roten Garden und Garnisonstruppen sich gegen alle Kräfte, die den Zar hatten stürzen helfen, brutal durchsetzte. Dies in einem atemberaubenden Tempo und mit einem untrüglichen Machtinstinkt. Koenen beschreibt diese Monate packend, aber nicht nur das: Das kolossale Werk liest sich wie ein grausiges Lehrstück für alle zeitgenössischen Diktatoren.
Wer immer noch behauptet, der Sieg der Bolschewiki sei trotzdem für das russische Volk ein Befreiungsakt vom Leibeigenenstaat unter dem Zar gewesen, sei an die Millionen Ermordeten von Stalin erinnert und ganz besonders an 1921. Da zeigten die roten Schergen, was sie mit ihresgleichen anstellten: Die äusserst brutale Niederschlagung der Matrosen von Kronstadt war der Auftakt unzähliger Mordaktionen, sozusagen von Kommunist zu Kommunist.
Gerd Koenen hat ein grosses Buch über die Ursprünge und die Geschichte des Kommunismus geschrieben. 1133 Seiten für nur 38 Euro. «Die Farbe Rot» beginnt mit einem Traum, mit einem Sehnen nach einer Welt, in der Menschen grösser sind als die Suche nach dem nächsten Schuss irgendwelcher Natur. Eine Welt, in der alle Menschen Schwestern werden und keine des anderen Knecht sein muss. Diese grossartige Utopie griff nach der Wirklichkeit und endete im Desaster. Heute noch hängen vor allem im Süden des weltlichen Globus viele Sozialreformer dem sowjetischen Modell nach. Sie glauben, dadurch zur Befreiung von Unterdrückung, Landwegnahme, Ausbeutung, Ungleichheit und Selbständigkeit zu gelangen.
Der Historiker, der das Elend dieser Utopie kennt, zeichnet sich aber auch dadurch aus, dass er selbst angesichts dieser grauslichen Geschichte die Idee von Gleichheit, Freiheit und Solidarität, von der Genossenschaft aller Menschen nie aufgeben wird. Und recht hat er.
Gerd Koenen: Die Farbe Rot. Ursprünge
und Geschichte des Kommunismus
C. H. Beck Verlag, München 2017.
ISBN 9783406714269