Von Belinda Meier — Wie aktuell, wie nah und wie berührend empfindet man heute die Tat von Claire Zachanassian, bzw. das Schicksal ihres einstigen Geliebten? Sicher ist: Ob vor einem halben Jahrhundert oder zur jetzigen Stunde, Geld regiert die Welt, macht käuflich und ist unmoralisch.
Am Berner Theater an der Effingerstrasse inszeniert Regisseur Stefan Meier vom 7. Oktober bis 10. November Friedrich Dürrenmatts «Besuch der alten Dame». Das Stück wurde 1957 in Zürich uraufgeführt. Stefan Meiers Inszenierung orientiert sich an der Fassung von 1959, die speziell für das Berner «Atelier Theater» konzipiert wurde. Diese im Vergleich zur Originalfassung abgespeckte Version bietet eine passende Ausgangssituation für das Effinger Theater. «Dürrenmatt sagt in seinem geschriebenen Stück selbst, man solle bei der Inszenierung mit Andeutungen arbeiten. Wir selbst mussten hier noch mehr andeuten. Obschon das Stück Volkstheatercharakter hat, ist es ein Kammerspiel und eben kein Volkstheater im klassischen Sinn, das auf einer grossen Laienbühne spielt und mit dem Güllener Volk auffährt. Das wäre hier auch nicht möglich gewesen. Wir haben das Ganze auf die Kerngeschichte reduziert», erklärt Stefan Meier.
Rache Rache Rache «Der Besuch der alten Dame» erzählt von der Milliardärin Claire Zachanassian (Sonja Schwarz), die nach 45 Jahren in ihre Geburtsstadt Güllen, ein wirtschaftlich ruiniertes Städtchen, zurückkehrt. In Güllen angekommen, wird die angesehene «alte Dame» offiziell in Empfang genommen. Ihre Rückkehr ist jedoch ein zweischneidiges Schwert. Bei den einen erweckt sie Hoffnung, bei anderen Schauer und Furcht. Das ihr in ihrer Jugend durch den Güllener Alfred Ill (Hans-Joachim Frick) widerfahrene Unrecht, will Claire nun rächen. Das allein ist der Grund ihrer Rückkehr. Alfred Ill, der sich damals nicht zum gemeinsamen Kind bekannte, Claire vor Gericht mittels bestochener Zeugen als Lügnerin hinstellte, sie entehrte und schliesslich aus ihrer Heimat verjagte, soll zur Rechenschaft gezogen werden. Die «alte Dame» unterbreitet den Güllener Bürgern ein unmoralisches Angebot: Sie bietet ihnen eine Milliarde an, dafür soll Alfred Ill für seine Tat büssen und getötet werden.
Das unmoralische Angebot So absurd das Angebot zunächst auch klingen mag, und so vehement sich die Güllener Bevölkerung anfänglich dagegen auflehnt – die Verlockung ist da, und sie ist gross. Die Frage, ob Claire Zachanassian der Güllener Bevölkerung auf Kosten eines Menschenlebens zu Reichtum verhelfen soll, bleibt letztlich die entscheidende Frage, die es von den Güllener Bürgern selbst zu beantworten gilt. Mit Sätzen wie «Ich lehne im Namen der Stadt Güllen das Angebot ab. Im Namen der Menschlichkeit», versuchen die Güllener zunächst, der Verlockung standzuhalten. Claires Antwort hingegen, «Ich warte», ist ein klare Ansage und ein direkter Vorverweis auf die Sinneswandlung, die noch eintreten wird. Sie ist sich ihres Plans und ihrer Macht sicher. Die Zeit bleibt die einzige Unbekannte.
Claire, eine mythologische Frauengestalt Claire wird vom Lehrer bei ihrer Ankunft treffend mit den Parzen, den Schicksalsgöttinnen aus der römischen Mythologie, verglichen. Die Parzen heissen Nona, Decima und Morta. Nona spinnt den Lebensfaden eines jeden einzelnen Menschen, Decima verwebt ihn und Morta zerschneidet ihn schliesslich. Morta, die Zerstörerin, ist es demnach, die dem Charakter Claires am nächsten kommt. Sie ist es nämlich, die von Anfang an weiss, dass sie das Schicksal der Güllener und jenes von Alfred Ill in den Händen hält. Dieser Verweis auf die Schicksalsgöttinnen und damit auf die Antike wird von weiteren Merkmalen bestärkt. Die im Stück vorherrschenden Themen wie Schuld und Sühne oder Rache und Opfer ebenso wie der stete Auftritt der Güllener als Einheit, die im übertragenen Sinne als Chor fungieren, können als Elemente der griechischen Tragödie identifiziert werden. In die Reihe dieser Elemente gesellt sich wunderbar auch der in der Forschungsliteratur oft gemachte Vergleich von Claire mit Medea, einer Frauengestalt aus der griechischen Mythologie, die die Ermordung ihrer Kinder rächt. Allein die Verweise von Claire auf Figuren der Antike bringen das Handlungsmotiv ihrer Figur schliesslich auf den Punkt: Rache.
Die künstlerische Umsetzung Trotz reduzierter Mittel und Möglichkeiten schafft es Stefan Meier, der Welt und dem Verhängnis der Güllener auf der Bühne Leben einzuhauchen. Sonja Schwarz alias Claire Zachanassian überzeugt dabei als unnah- und berechenbare «alte Dame». Das Teuflische, Kaltblütige und Düstere ihres Charakters, sie als grausame Rächerin entlarvend, durchdringen den Betrachter jedoch zu wenig. Die Entwicklung von Alfred Ill, vom durch das Güllener Volk mit Bewunderung umgarnten Bürger zum fallen gelassenen und seinem Schicksal überlassenen Gesellschaftsmitglied, vermag Hans-Joachim Frick bestens darzustellen. Die Kostüme (Sarah Bachmann, Sybille Welti), dezent, zweckmässig und teils symbolisch aufgeladen, lassen zusammen mit den eher karg und kühl gehaltenen Bühnenbildern (Peter Aeschbacher) die Welt im heruntergekommenen Güllen gut nachempfinden. Der Einsatz der Hebebühne eignet sich zudem bestens, um vielerlei Stimmungen und Assoziationen hervorzurufen. Der Akt des Versenkens beispielsweise erscheint so in verstärktem Masse als Untergang oder Fahrt zur Hölle. Ihm haftet etwas Schauerliches, ja fast Teuflisches an – womit wir wieder beim unmoralischen Angebot wären, das einem teuflischen Pakt gleichkommt.
«Der Besuch der alten Dame» zeigt auf groteske und tragikomische Art und Weise, wozu Menschen im Kollektiv fähig sind, wie Geld zum Instrument der Machtausübung wird und wie blass die Grenzen zwischen Schuld und Unschuld, Täter und Opfer sind. Sind es denn überhaupt Grenzen oder könnte man die sich gegenüber stehenden Kontrahenten je nach Argumentationsstandpunkt nicht auch als austauschbare Gegner betrachten? Dürrenmatts Stück, das sich in jede beliebige Zeit übertragen lässt, führt uns die unentrinnbare Macht des Geldes vor Augen. Die Güllener sind wir alle.
Foto: zVg.
ensuite, November 2010