Von Jaron Radzik — Sie sind wie unsere Bewohner. Sie kommen und gehen wieder, spricht Erika Hüsler wie zu sich selbst. Erika Hüsler ist Leiterin des Zürcher Lighthouse, des Kompetenzzentrums für Palliative Care. Mit ihren freundlichen, dunkelblauen Augen in einem faltenlosen Gesicht strahlt sie Feingefühl, Fröhlichkeit, aber auch Kompetenz aus. Eine wertvolle Kombination von Eigenschaften an einem Ort wie diesem, wo das Leben und der Tod so nah beieinander stehen.
Mit sie, meint die Leiterin elf Schafe aus Holz. Zierliche Schafskulpturen aus hellem Fichtenholz, mit feingliedrigen Gliedmassen, dicken Bäuchen und furchigen Gesichtern. Skulpturen, wie sie heute oft an einer der zahllosen Künstlerperformances mit Motorsägen gemacht werden. Samt Sockel nur ungefähr fünfzig Zentimeter hoch. Aber diese fünfzig Zentimeter haben es in sich. In den fünf Jahren ihres Bestehens haben die Holzschafe des Künstlers Christian Bolt viel gesehen. St. Antönien, Klosters, Davos, St. Moritz, Trogen, Chur und nun Zürich. Ein Jahr an einem Ort, erklärt mir der Künstler Christian Bolt. Der Mann in Pullover und Überhosen ist Ende Dreissig, mit dunkelbraunem, grau meliertem Haar. Das Kommen und Gehen der Schafe hat offenbar Programm. Jeden Winter sammelt der Künstler die Schafe von ihren Besitzern ein. Dann bringt er die Skulpturen wieder an einen anderen Ort und zu anderen Menschen. Ein Jahr – das genügt, sagt Christian Bolt. Die Schafe gehören niemandem. Nicht die filigranen, perfekt proportionierten Körper, welche mit einer grossen Motorsäge gestaltet sind, machen diese Skulpturen so besonders, sondern ihre Geschichte. Auf jedem Sockel sind mehrere Plaketten aus Aluminium angebracht. Beschrieben mit jeweils einer Jahreszahl, dem Namen einer Person sowie einem kleinen Text. Das sind die Namen der ehemaligen Besitzer. Die Worte sind ein Ausdruck der Beziehung, die diese Menschen zu ihrem Schaf entwickelt haben, erläutert der Künstler die Plaketten. Manchmal tun mir die Leute fast ein bisschen Leid, wenn sie die Schafe wieder hergeben müssen. Während er das sagt, werden dem Künstler die Augen feucht. Die Plaketten fassen die Geschichten zusammen, die Schaf und Schafhalter miteinander erlebt haben und machen diese Verbindung sichtbar. Die Schafe haben sehr unterschiedliche Werdegänge. Die einen sind quer durch die ganze Schweiz gereist, andere haben die Prättigauer Talschaft kaum je verlassen. Manche Schafe standen in Schlössern von Milliardären, andere in kleinen Mietwohnungen von Strassenarbeitern. Gleich sind sie nur am Ende des Jahres wieder vereint mit der Herde. Und doch: Neben der eigenen Gestaltung haben die Namen ihrer Halter und deren Worte auf den Sockeln jedes Schaf für sich einzigartig werden lassen.
Die Herde aus Holzschafen steht auf einem kleinen, länglichen Platz, neben einem gutbürgerlichen Haus, irgendwo im Stadtteil Hottingen in Zürich. Hier haben sich inzwischen zwanzig bis dreissig Menschen eingefunden. Sie stehen in Gruppen zusammen, unterhalten sich, werfen manchmal einen Blick zur Schafherde, zum Apéro oder zur Leiterin. Das Haus an der Carmenstrasse 42 hat schon viele Menschen kommen und gehen sehen. In die meisten Häuser kommen Menschen, um zu leben, hierher kommen sie, um zu sterben. Vier Stockwerke, zartgelbe Fassaden, Balkone umrahmt von kunstvollen Geländern aus Schmiedeeisen. Den Unterschied erahnt der Besucher, wenn er links neben dem Haupteingang auf einer etwa A3-grossen Tafel in klaren dunkelgrauen Lettern auf blauem Hintergrund liest: Hospiz Zürcher Lighthouse, Kompetenzzentrum Palliative Care. Für die Bewohner gibt es achtzehn Betten, von denen zehn ständig belegt sind, erklärt die Leiterin Erika Hüsler. Sie spricht nicht von Patienten, sie spricht von Bewohnern. Die Menschen sind keine Patienten, für sie gibt es keine Therapiemöglichkeiten mehr. Deshalb sind sie Bewohner, Menschen auf der Durchreise. Die Pflege ist das eine, die Finanzierung etwas anderes. Einen Fünftel finanziert der Kanton Zürich. Einen Drittel die Patienten, der Rest wird von den Gemeinden bezahlt. Seit es keine Subventionen mehr gibt, müssen wir eine PR-Abteilung betreiben, die sich um die Gewinnung von Drittmitteln kümmert, erklärt sie. Keine leichte Aufgabe für einen Betrieb, in dem 80 Personen arbeiten, über 40 in Vollzeitstellen. Wer das Hospiz betritt, sieht und fühlt weder den Kampf um die Mittel noch den Kampf mit dem Tod. Helle Räume, freundliche Mitarbeiter, Offenheit. Auch wenn der Tod alltäglich ist, beherrschen tut er diesen Ort nicht. Das Leben bejahen und das Sterben als normalen Prozess verstehen, dieser Grundsatz scheint hier offenbar verwirklicht. Palliative Care hat jedenfalls nichts mit Sterbehilfe zu tun, bekräftigt Erika Hüsler. Offenbar hat sie diese Abgrenzung schon öfters machen müssen.
Jetzt, wo das Fest beginnt, ist sie aber mit anderen Dingen beschäftigt. Sie versucht beispielsweise, zwei hüfthohe Finnenkerzen anzuzünden. Dies mag nicht so recht gelingen, es qualmt und raucht, aber brennen will das Holz nicht so richtig. Wohl weil das Holz noch etwas nass ist, meint der Künstler. Aber Erika Hüsler verliert auch nach dem zehnten Versuch weder die gute Laune noch die Geduld. Zum Glück, denn die Finnenkerzen sind nötig. Kalte Arktisluft hat in den letzten zwei Tagen das ganze Land ergriffen und in ein weisses Kleid gehüllt. Im Schnee sind viele Fussspuren zu erkennen. An der Hausmauer stehen zwei Klapptische mit weissen Tischtüchern. Darauf sind unzählige Platten mit Häppchen, Kuchen und Gebäck angerichtet. Was für ein Apéro, staunt ein Mann in grüner Winterjacke, die schwarze Wollkappe tief über beide Ohren und ins Gesicht gezogen. Langsam wird den Leuten kalt. Die Leiterin des Pflegedienstes tritt ungeduldig von einem Fuss auf den anderen. Hoffentlich können wir bald anfangen, mir wird kalt, sagt sie zur leitenden Ärztin neben ihr. Die Leiterin hat das Fest für das Personal organisiert. Die meisten Hospizbewohner sind nicht mehr gut genug auf den Beinen, um an der Feier teilnehmen zu können.
Es hat geklappt, die Finnenkerzen brennen, der Rauch hat sich verzogen. Zurück bleibt der Geruch in den Kleidern. Dann hab ich wenigstens genug Platz im Tram, witzelt eine Frau von der Hotellerie. Die Hospizleiterin begrüsst die Anwesenden und dankt ihnen für ihr Kommen. Viel sei für dieses Fest gemacht worden, vor allem vom Hotellerieteam, meint sie und verweist auf den Apéro. Die Gäste applaudieren. Dann begrüsst sie den Künstler Christian Bolt und die Schafe. Wir freuen uns schon sehr darauf, die Schafe ins Hospiz zu nehmen und mit ihnen das kommende Jahr zu verbringen. Lächelnd übergibt sie das Wort dem Künstler. Ich sehe, wie viel Freude sie an den Schafen haben, sagt er und wirft einen Blick auf den reichhaltigen Apéro. Die Leute lachen. Er erzählt, wie die Idee mit den wandernden Schafen entstanden ist und wie viel Freude er dadurch schon verbreiten konnte. Ich hoffe, sie werden diese Sommerung in bester Erinnerung behalten, schliesst er die Rede. Nach dem Applaus strömen die Anwesenden zum Apéro. Angestossen wird mit kaltem Prosecco, auch wenn alle frieren.
Nach ihrer Meinung gefragt, erläutern die Anwesenden, was sie sich von den Schafen erhoffen. Für den einen oder anderen der Bewohner werden die Skulpturen eine schöne Abwechslung sein. Sie zu hüten ist eine Aufgabe, die auch die Bewohner gerne übernehmen werden, meint die leitende Ärztin in gestochen scharfem Hochdeutsch unseres nördlichen Nachbarlandes. Die Schafe, die Herde, das passt zu uns. Das wird uns die Grundlage für gute Gespräche liefern, meint der Seelsorger. Besonders die Gestaltungstherapeutin ist begeistert: Das gibt ein ganz spannendes Jahr mit den Schafen, erklärt sie. Die Schafe werden zwischen den Menschen hier Verbindungen schaffen. Nur schon, dass die Schafe hier sind, löst etwas aus. Kunst wird hier nicht einfach als Dekoration gesehen, erklärt sie weiter, sie ist ein persönlicher Ausdruck, ein verbindendes Element. Und ein kommunikatives Element, wirft der Seelsorger ein. Ob all der positiven Reaktionen ist sich Erika Hüsler sicher, die Schafe werden für das Hospiz eine Bereichung sein. Nicht zuletzt deshalb, weil diese Kunst und die Menschen im Hospiz viel miteinander gemeinsam haben.
Und sie haben tatsächlich viel mit den Bewohnern des Hospiz gemeinsam: Menschen haben mit ihnen gelacht, geweint und Trost gefunden. Und immer wenn es am Schönsten ist, müssen die Schafe wieder gehen. Genau wie die Bewohner. An diesem Ort stehen Leben und Tod nebeneinander. Diese Nähe macht uns so offen und ehrlich zueinander, meint ein Mann aus dem Pflegepersonal. Aber diese Erfahrung macht es manchmal schwierig, miteinander zu stehen. Dann schaut er auf die Menge und sagt: Aber schauen Sie, die Schafe haben schon damit begonnen, zu helfen. Sie haben uns bereits jetzt zusammengeführt.
Foto: zVg.
ensuite, Januar 2010