Von Peter Schneider, bearbeitet von Sonja Wenger — Die Aktivisten der internationalen Brigaden wollten Anfang der achtziger Jahre in Nicaragua bei der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft mithelfen und so die Lebensbedingungen der marginalisierten Landbevölkerung verbessern. Einer von ihnen reiste 25 Jahre später wieder in das Dorf, mit vielen Fragen im Gepäck.
Wäre ich jemals nach Nicaragua zurückgekehrt, wenn ich gewusst hätte, was mich erwartet?
Im Sommer 1984 ist das noch keine Frage. Wir sind ein Dutzend Schweizer und Schweizerinnen – mehrheitlich Studenten in den Semesterferien – und unterwegs in ein Dorf in den Bergen des Nordwestens von Nicaragua. Dort wollen wir den Bauern tatkräftige Hilfe beim Häuserbau leisten – und damit unsere Solidarität mit der jungen Revolution und ihrem neuen revolutionären Gesellschaftsentwurf zeigen.
Fünf Jahre zuvor hat ein Volksaufstand die von den USA gestützte Diktatur von Anastasio Somoza gestürzt. Die siegreichen Sandinisten streben eine Besserstellung der jahrhundertelang vernachlässigten und ausgebeuteten Bauernbevölkerung an.
Die Häuser sollen auf einer Waldlichtung gebaut werden, die zum Latifundium eines verschuldeten Kolonisators gehörte, der vor der Revolution ins Ausland geflohen war. Die christlichen Schweizer Hilfswerke Heks und Caritas sowie die Hilfsorganisation des «Bloque» koordinieren die Unterstützung, um den Bauern zu menschenwürdigen Unterkünften zu verhelfen. Für den Hausbau bringen die Einheimischen das Fachwissen mit, wir Schweizer sind ihre Hilfskräfte, die Baumaterialien und Werkzeuge im Gepäck führen: Schaufeln, Pickel, Zement.
Wir teilen die kargen Lebensbedingungen der Bauern, schlafen in Hängematten und in Schlafsäcken auf Holzbrettern. Wir teilen mit ihnen die tägliche Ration Reis, Bohnen und eine Maistortilla. Die Katzenwäsche in den Wassertümpeln eines Baches muss der Hygiene Genüge tun. Es ist ein auf das Elementare reduziertes Leben. Mehr Zivilisationskram als in unseren Rucksäcken unterzubringen ist haben wir nicht dabei.
Die Kommunikation mit den Bauern ist schwierig. Unsere Spanischkenntnisse sind bescheiden – ihr Dialekt für uns kaum verständlich. Bei der Arbeit behelfen wir uns mit Zeichensprache. Ansonsten herrscht meist Stille. Sie schweigen. Wir schweigen. Ein Gefühl der Verlorenheit macht mir zu schaffen. Es scheint, als sässen wir an gegenüberliegenden Ufern eines breiten Flusses, auf dem Jahrhunderte der Geschichte fliessen, die uns trennen. Der damals 48-jährige Bauer Amancio muss ähnlich empfunden haben: «Ich begreife nicht, was uns Analphabeten für euch Akademiker interessant machen könnte», sagt er.
Hoffnung im Gepäck Weshalb Nicaragua? Ich hatte damals nicht einfach irgendwo in Lateinamerika irgendwelche Entwicklungsarbeit leisten wollen. Nicaragua hingegen war ein politisches Bekenntnis. Ich verknüpfte es mit der Hoffnung, dass dank der erfolgreichen Revolution etwas Neues und vor allem Dauerhaftes entstehen könnte. Und dass die Entwicklungshilfe hier mehr sein würde als Augenwischerei.
Entsprechend stolz war unsere Gruppe deshalb darauf, von den Einheimischen als «Internationalisten» bezeichnet zu werden – in Anlehnung an jene Freiwilligen, die während des spanischen Bürgerkriegs in den dreissiger Jahren aus aller Welt nach Spanien geströmt waren, um das Land gegen den Faschismus von General Franco zu verteidigen.
Natürlich lockte auch das Abenteuer, obwohl dies niemand von uns zugegeben hätte. Wir wollten mit Abenteuergeschichten heimkehren. Die Bauern waren die Projektionsfläche unserer Revolutionsphantasien. Wobei diese privaten Motive durchaus Hand in Hand mit den politischen Interessen der sandinistischen Revolutionsführer gingen.
Denn Nicaragua stand in den achtziger Jahren völlig isoliert im internationalen Rampenlicht. Nach Somozas Sturz 1979 befürchteten die USA – zuvor Somozas wichtigster Verbündeter – einen Rohstofflieferanten und Absatzmarkt zu verlieren, doch vor allem, dass die erfolgreiche Revolution in Zentralamerika Schule machen könnte.
Deshalb rekrutierten die USA Somozas geflohene Folterknechte in die konterrevolutionäre Söldnertruppe der Contras und versorgten sie mit Geld und Waffen. Die Militärlogik der Contras war denkbar simpel. Mit einem kräftezehrenden Bürgerkrieg versuchten sie alles zu zerstören, was die Revolution aufbaute – Gesundheitszentren, Schulen, Landwirtschafts-Kooperativen – und töteten jene, die für die neuen Ideale unterwegs waren: Ärzte, Krankenschwestern, Lehrer und politische Aktivisten.
Vor diesem Hintergrund war unser Arbeitseinsatz nicht ungefährlich, wenngleich wir uns als Schweizer neutral und damit unverwundbar fühlten. Wir hatten tatsächlich Glück. Kurz nach unserer Rückkehr in der Schweiz erreichte uns die schockierende Nachricht, dass «unsere» Kooperative von den Contras überfallen worden war: Sechs Menschen wurden dabei ermordet und das Schulhaus sowie die gesamte Bohnenernte niedergebrannt.
Wir Internationalisten treffen uns in Zürich, organisieren Solidaritätskundgebungen und Mahnwachen, sammeln Geld. Einzelne kehrten im darauffolgenden Sommer nach Nicaragua zurück, um das Schulhaus wieder aufzubauen. 1990 wählte eine vom Bürgerkrieg erschöpfte Bevölkerung die Sandinisten ab. «Die Menschen waren weise genug, für ein Ende dieses Krieges zu stimmen», sagt der Bauer Eduardo. «Es war die einzige Möglichkeit, Frieden zu schaffen.»
Vorbild und Inspiration Als Privatperson kehre ich 25 Jahre später wieder in das Dorf zurück. Ich will die Menschen noch einmal treffen – und herausfinden, wie sie damals die Präsenz von uns Internationalisten erlebt haben.
Der Empfang ist unterschiedlich. Diesmal erwarten uns keine Kinder. Florentina, die uns damals verpflegt hatte, ist inzwischen 61 Jahre alt. Sie freut sich, zeigt sich aber gleichzeitig enttäuscht und fragt vorwurfsvoll: «Wir haben uns in all den Jahren, da wir nichts mehr von euch gehört haben, gefragt, was aus euch geworden ist. Ob ihr noch lebt, ob ihr gestorben seid?» Sie konfrontiert mich mit meinem Gewissen. Ja, denke ich, sie hat Recht. Wo bin ich in all den Jahren geblieben? Weshalb hielt ich nicht wenigstens Briefkontakt? Dass auch wir Internationalisten nach unserem Einsatz untereinander wenig Kontakt pflegten, ist für Florentina erst recht unverständlich.
Ich habe viele Fragen mit im Gepäck. Was werde ich vor Ort antreffen? Existiert die Kooperative noch? Haben die Bauern ihr Land verloren? Sind sie aus ihren Hütten verjagt worden? Wer lebt von ihnen noch? Und vor allem: Wie sehen die Dorfbewohner unser Engagement im Rückblick?
Florentina stimmen meine Fragen milde. Sie erinnert sich an die damaligen Wohnverhältnisse. Ein halbes Dutzend Familien lebte unter dem einen Dach des Gebäudes vom Gutsverwalter. «Wir hatten die Häuser dringend nötig», sagt sie. Und ihr Schwager, der heute 73-jährige Amancio, fügt hinzu: «Vor eurer Ankunft hatten wir noch nicht einmal eine Schaufel!»
Besonderen Eindruck muss unsere Fähigkeit zur Organisation hinterlassen haben. Roger, damals ein 15-jähriger Jugendlicher: «Für uns Junge, die wir nie gelernt hatten, uns zu organisieren, gaben die gut organisierten Internationalisten Anstoss, es ihnen gleich zu tun». Viele für uns Europäer selbstverständliche Dinge hatten für die Bauern Vorbildfunktion: «Wir haben viel in Sachen Hygiene gelernt», sagt Eduardo. «Ganz besonders beeindruckte uns, dass ihr nach jedem Essen die Zähne geputzt habt.»
Und nicht nur vom 72-jährigen Marcelino höre ich: «Wir werden euch nie vergessen, dass ihr uns in jenen schwierigen Jahren beigestanden habt, dass ihr den Mut hattet, mitten im Krieg zu uns zu kommen». Florentina pflichtet ihm bei: «Mir gab eure Anwesenheit ein Gefühl der Hoffnung. Es war Solidarität in einem Augenblick, in dem wir sie dringend nötig hatten.»
Der 40-jährige Roger, der seit zehn Jahren als Hotelangestellter in der Provinzhauptstadt Leòn arbeitet und im Dorf eine Musikgruppe gegründet hat, verweist auf einen anderen Aspekt: «Von euch lernten wir zu arbeiten, ohne daraus persönlichen Gewinn zu ziehen. Ihr wart uns ein Vorbild, weil ihr geholfen habt Häuser zu bauen, obwohl ihr zu Hause ein Dach über dem Kopf hattet.» Doch für ihn war der Austausch gegenseitig. «Es war für uns eine gute Erfahrung zu sehen, dass auch wir euch etwas zu geben hatten, nämlich unsere Musik, unsere Sprache, unsere Kultur.»
Noch etwas Überraschendes erwähnt Roger: «Ich habe erst dank euch Internationalisten realisiert, dass ausserhalb unseres Tales eine Welt existierte, von der wir Bauern bisher nichts geahnt hatten.» Während wir Schweizer den «Wert» unserer Präsenz in erster Linie an der Anzahl Häuser massen, die wir aufbauen konnten, scheinen die Dorfbewohner gänzlich andere Werte geschätzt zu haben. Ohne es zu ahnen, haben wir vielen zu einer neuen Weltsicht verholfen. Diese Erfahrung mag sie später inspiriert haben, in ihrem Dorf eine Spanischschule für Ausländer zu eröffnen. Mit dem Geld, das so erwirtschaftet werden konn-te, haben inzwischen viele Dorfbewohnern zu einem bescheidenen Wohlstand gefunden.
Geschenke von gestern War die Kommunikation vor 25 Jahren noch eine Herausforderung, so gab es diesmal keine Probleme. Die Schulleitung fordert von den Dorfbewohnern, mit den Studenten nicht Dialekt, sondern ein gepflegtes Spanisch zu sprechen – ein Umstand, der mir für meine Interviews sehr entgegenkommt.
Neben Fragen habe ich auch Geschenke mitgebracht: Seifen, Nähnadeln, Zahnbürsten, Toilettenpapier, Kugelschreiber, letzteres das A und O des aufgeklärten Touristen. Ich übergebe sie Amancio zur gerechten Verteilung. Als er die Sachen auspackt, überkommt mich ein Schamgefühl. Ich realisiere, dass meine Geschenke sich nicht an die Gegenwart, sondern an ein Gestern richten, das nicht mehr existiert. Die Menschen im Dorf müssen sich heute den Hintern nicht wie früher mit entkörnten Maiskolben putzen. In den Häusern stehen Nähmaschinen. Seife ist im Dorfladen billig zu kaufen. Und auch Zahnbürsten sind längst keine Mangelware mehr.
Vielleicht liegt mein Fauxpas daran, dass ich in den vergangenen Jahren im Abbild meiner Nicaraguafotos gefangen gelebt habe – Fotos, auf denen die Zeit still stand. Ausgerechnet diese Fotos lösen dann aber bei den Dorfbewohnern Begeisterung aus und werden so zum eigentlichen Geschenk. Bauer Lencho fasst es in Worte: «Das Besondere an den Bilder ist, dass sie nicht bloss unsere Gesichter zeigen, sondern auch wie damals unser tägliches Leben aussah.» Besondere Freude bereitet ihm ein Bild des Ochsen Capuillo, der den Menschen im Dorf damals so wichtig war, dass sie ihn nicht zum Metzger brachten. «Wir haben ihn eines natürlichen Todes sterben lassen, denn er hat seinerzeit unsere toten Märtyrer zum Friedhof gezogen.»
Lenchos Worte lösen in mir eine Erinnerung aus, die ich lange vergessen hatte: Vor 25 Jahren hatte ich Porträtfotos meiner Familie mitgenommen, doch die Fotos wurden von den Bauern achtlos von einem schwieligen Handpaar zum nächsten gereicht. Als ich nachfragte, weshalb die Bilder keinen Anklang fanden, sagte man mir: «Man sieht ja nicht dein Haus. Wo ist dein Bett? Wo ist dein Hausschwein? Habt ihr denn keinen Ochsenkarren?»
Später, als ich eigene Aufnahmen von den Bauern machen wollte, zwangen sie mich, mit der Kamera auf Distanz zu gehen, denn alle Familienangehörigen mussten mit aufs Bild, genauso wie die Hütte, das Maultier und das Hausschwein, die Hühner und Truthähne. Den Bauern war wichtig, ihr ganzes soziales Umfeld und ihren gesamten Besitz auf den Bildern wiederzufinden.
Nachhaltig erfolgreich? Von der Lichtung, in die wir damals die Häuser bauten, ist nichts geblieben. Sie ist heute überbaut. Die lokale Bevölkerung hat sich verfünffacht. Im Dorf leben 125 Menschen. Der Lebensstandard ist sichtbar gestiegen. Alle haben ein Dach über dem Kopf. Die Mehrzahl wohnt in Backsteinbauten oder Adobehäusern, einige Familien noch in Holzhütten. Alle Haushalte haben Zugang zu sauberem Trinkwasser. Knapp zwar während der Trockenzeit, aber ausreichend. Solarzellen auf Hausdächern sorgen für Strom. Überall ragen Fernsehantennen in die Höhe.
Das Dorf ist besser als je zuvor in der Lage, von den selbst hergestellten Lebensmitteln zu leben. Die Erwachsenen sind in Markenkleidern unterwegs. Auch die Kinder sind gut gekleidet und spielen mit Barbiepuppen. Viele besitzen billige Fahrräder aus China, etliche Motorräder, und das Dorf verfügt über einen Kleinlaster. Ein Gesundheitsposten wird gerade aufgebaut, in dem einmal pro Woche ein Arzt und eine Krankenschwester präsent sein sollen. Im Dorfzentrum stehen zwei Schulhäuser. Hilfsorganisationen würden diese Entwicklung wohl als eine «nachhaltige» bezeichnen.
Die Bildung hat auch die Frauen erreicht. Drei von vier Lehrpersonen an den Schulen sind Frauen. Sie gehören zur ersten Generation, die dank der sandinistischen Schulreform gratis studieren konnte. Dank der Spanisch-Schule für Ausländer konnten zudem Arbeits-plätze geschaffen und damit die Abwanderung aus dem Dorf gestoppt werden. Geradezu überschwänglich bezeichnen die Bewohner ihr Dorf als ein Vorzeigemodell für alle lateinamerikanischen Dörfer, besonders hinsichtlich der Organisation, Arbeitsformen und Menschlichkeit.
Entscheidend beigetragen zu dieser positiven Entwicklung im Dorf hat wohl, dass das früher weit verbreitete Alkoholproblem überwunden werden konnte. Amancio hatte bereits vor 25 Jahren gesagt, «der Alkohol ist der grösste Feind und eine enorme Belastung für unsere Kooperative». Die betrunkenen Männer hätten ihre Frauen und Kinder geschlagen. Auch ich erinnere mich, wie wir nachts in unseren Hängematten die verzweifelten Schreie der geschlagenen Frauen hörten, wenn ihre betrunkenen Ehemänner heimkehrten. Keiner wagte es, ihnen die Flasche aus der Hand zu schlagen, denn die Säufer waren bewaffnet und ballerten in alle Himmelsrichtungen, wenn sie grölend versuchten, die Sterne vom Himmel zu schiessen.
Eine Generation später ist Alkohol kein Problem mehr. Die Alkoholiker sind weg gezogen oder haben sich inzwischen zu Tode getrunken. Die Jungen suchen heute keine Zuflucht im Alkohol; das Dorf bietet ihnen reale Zukunftsperspektiven.
Konsum bedroht Identität Es gibt jedoch auch kritische Punkte. So beobachtet der 43-jährige Bauer Nestor, der auch Direktor des Dorftheaters ist, skeptisch die wachsende Überfremdung. Denn unübersehbar sind heute die vielen eingeheirateten Ausländer, die hier für Hausbau, Fruchtkulturen oder Schafzucht Boden erwerben.
Eine andere Tatsache ist die Heiratspolitik vieler Nicaraguaner, deren Kinder Europäer oder US-Amerikaner heiraten und fortziehen. Mit einer solchen Heirat haben sie finanziell ausgesorgt. Bei Amancio sind fünf seiner sechs Kinder mit Ausländern liiert. Und drei der vier Kinder von Florentina leben heute in Europa. Es handelt sich hierbei um eine neue Form der Altersvorsorge, denn die finanziell gut gestellten Kinder sollen dereinst ihre Eltern unterstützen.
Nestors Familie partizipiert nicht an und profitiert nicht von dieser Praxis. «Hier leben viele Fremde und es werden ständig mehr. Entsprechend wird sich hier auch viel verändern in den nächsten Jahren», sagt Nestor. «Ich fürchte um unsere Identität».
Eines hält Nestor den Ausländern allerdings zugute. Dank ihnen habe ökologisches Gedankengut im Dorf Fuss fassen können. So verfüge eine Mehrzahl der Häuser heute über Wassertanks, die das Regenwasser speicherten. Neue Häuser würden im erdbebensicheren und klimaverträglichen Adobestil gebaut. Die Abfälle werden gesammelt und zentral entsorgt.
Die Anwesenheit vieler Ausländer birgt für viele Dorfbewohner noch eine weitere Gefahr, der sich selbst der sechzehnjährige Sekundarschüler Django bewusst ist: Er befürchtet, «dass wir alle dem Kapitalismus verfallen.» Die Jungen würden genau registrieren, welche Konsumgüter wie etwa Markenkleider oder technische Geräte die Fremden besitzen würden.
«Die Kinder sind der Gefahr des Kapitalismus besonders ausgeliefert. Er greift sie mit Computern und mit Fernsehen an und deformiert sie zu reinen Konsumenten», sagt Django. Und sein Onkel, der 35-jährige Oskar, stimmt ihm vorbehaltlos zu: «Der Konsum ist ein grosses Problem. Ich sehe das besonders bei meiner Arbeit, dem Einsammeln des Abfalles. Noch vor wenigen Jahren war das nicht mehr als ein Sack Abfall pro Familie. Heute ist es ein ganzer Ochsenkarren voll!» Und heute würden auch Dinge weggeworfen, die oft noch in gutem Zustand seien und mit wenig Aufwand zu flicken wären. Doch die Frauen hätten inzwischen keine Zeit mehr, die Dinge zu reparieren.
Der 35-jährige Maurer und Künstler Javier bezeichnet den Konsum als «das Verschwinden der Kultur». So viele schöne und reichhaltige Dinge seien verschwunden oder hätten sich verändert. «Nehmen wir die nicaraguanische Küche. Früher war sie vielfältig und reich. Aber heute gibt es nur noch Junkfood, Halbgares voller Konservierungsmittel.» Oder die vielen wunderbaren Fruchtsäfte, die es früher gegeben habe. «Heute werden sie alle von Coca Cola aus dem Markt gedrängt.»
Wegbereiter des Kapitalismus? Am Dorfeingang erinnert eine Metalltafel an das Engagement der Schweizer Hilfswerke Heks, Caritas und des Bloque. Wer nach einem gelungenen Beispiel nachhaltiger Entwicklung sucht, wird hier fündig. Es fällt schwer zu sagen, welchen Anteil an diesem Erfolg den Hilfswerken, und welcher der sandinistischen Revolution zufällt. Eine wichtige Basis dafür war sicher die sandinistische Landreform und Alphabetisierungs-kampagne. Die Hilfswerke haben ihrerseits das Selbstbewusstsein der Menschen gestärkt und die Mittel zur Selbsthilfe bereit gestellt. Die einen sprachen von Solidarität, die anderen von Nächstenliebe.
Dennoch werde ich auch nach 25 Jahren einige grundlegende Zweifel nicht los. Die Entwicklung, die die Lebenssituation der Bauern so verbessert hat, wurde von aussen an sie herangetragen. Hätten die Bauern denselben Weg beschritten, hätten sie denn eine Wahl, respektive die Vorraussetzungen für eine Wahl gehabt? Mit anderen Worten: Ist unser Engagement von damals nur positiv zu werten? Oder sind wir Internationalisten, die wir bei der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft mithelfen wollten, nicht vielmehr zu den Wegbereitern des Kapitalismus in eben dieser Gesellschaft geworden?
Nicht alle Begegnungen bei meinem zweiten Besuch im Dorf sind erfreulich. Zu viel hat sich verändert. So löste das Dorf Anfang der 90er Jahre die revolutionäre Kooperative auf, mit fatalen Folgen für die Dorfgemeinschaft. Heute ist das Land wieder in Privatbesitz, und wie vor der Revolution trennen Stacheldrahtzäune Felder und Hausgrundstücke. Mit Glassplittern gespickte Mauern und allgegenwärtige Sicherheitsschlösser bewachen das bescheidene Eigentum. Bei vielen stehen heute finanzielle Interessen im Vordergrund. Mir bleibt die eine Frage: Ist der Abgrund zwischen jenen, die viel haben und jenen, die wenig haben, je zu überwinden?
Ich beschliesse, nicht nach Nicaragua zurückzukehren.
Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2012