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Schreiben, tippen, schreiben

Von Iri­na Mahlstein — Ich schreibe den ganzen Tag. Ich komme ins Büro, fange an zu tip­pen bis zum Mit­tagessen. Nach dem Mit­tag set­ze ich mich wieder vor meinen Bild­schirm und tippe weit­er und immer weit­er und immer weit­er. Alle gesam­melten Erken­nt­nisse der let­zten zwei Jahre und acht Monate wer­den aus dem Kopf in den Com­put­er hinein auf den Bild­schirm pro­jiziert, natür­lich via Tas­tatur. Eigentlich müsste mein Kopf mit jedem Tag leer­er wer­den. Aber das Gegen­teil ist der Fall. Er fühlt sich so an, als ob er jeden Moment zer­platzen kön­nte. Obwohl ich weit­er­hin schreibe und schreibe, Wis­sen aus den hin­ter­sten Hirn­win­dun­gen her­vor­presse, dieses in Pub­lika­tio­nen ver­packe, in Forschungsanträge und in meine Dok­torar­beit.

Die geball­ten erar­beit­eten Erken­nt­nisse ver­pack­en sich ger­ade in eine runde, vol­len­dete Arbeit. Indessen nimmt das Chaos in meinem Kopf über­hand, und ich bekomme das alltägliche Leben immer weniger geregelt. Ich vergesse meinen Geld­beu­tel, mein Veloschloss, ich lasse wichtige Doku­mente, die zur Arbeit müssten, zu Hause liegen, schaffe welche nach Hause, die nicht nach Hause soll­ten… . Es lief schon bess­er. Aber immer­hin kann dieser Zus­tand nur noch max­i­mal drei Monate andauern.

Es wird auch langsam Zeit, dass ich aus meinem eige­nen Film wieder rauskomme und etwas von mein­er unmit­tel­baren Umge­bung, von der Welt an sich, von der Kul­tur wahrnehme. Im Moment bin ich eher eine Gefan­gene meines Wis­sens. Aber anscheinend ist dieser Werde­gang abso­lut nor­mal für ange­hende «Doc­tor of Sci­ence». Es bleibt mir nichts anderes übrig, als es zu akzep­tieren und dieser chao­tis­chen Welt etwas Pos­i­tives abzugewin­nen. Die, je näher das Ende naht, umso been­gen­der wirkt. Was dies sein kön­nte, ist mir noch abso­lut unklar. Aber Weisheit kommt sowieso erst mit dem Alter. Deshalb mache ich mir bezüglich dieses Prob­lems keine Sor­gen. Immer­hin eines, welch­es ich nicht beacht­en muss.

Heute habe ich wieder einen ganzen Tag lang getippt. Dabei sind etwa 30 Zeilen Text ent­standen. Eine Wahnsinnsleis­tung. Das muss man schon zugeben. Davon habe ich etwa 20 wieder gelöscht. Net­to zehn Zeilen Gewinn in einem acht­stündi­gen Arbeit­stag. Zum Glück gibt es hin und wieder auch andere Tage, an denen ich sog­ar ein gutes Gefühl habe, wenn ich schreibe. Diese Tage braucht es auch, damit man diejeni­gen über­leben kann, an denen man 20 Zeilen von 30 wieder löscht, weil man beim Lesen zur Erken­nt­nis gekom­men ist, dass alles nur Scheisse ist, was man da ger­ade geschrieben hat. Sinnlos­es Gesäusel über Kli­mamod­elle, ohne Anfang und ohne Schluss. Das Ziel ist es, min­destens 20 Seit­en für mein Ein­leitungskapi­tel zu schreiben. Ich habe noch zwei Monate Zeit. Füllen kann man die Seit­en immer. Aber eben, Qual­ität ist der Massstab der Dinge, nicht Quan­tität. Eigentlich schön! Wo gibt’s das heute noch? Keine Massen­pro­duk­tion. Meine Dok­torar­beit ist ja schliesslich eine Einze­lan­fer­ti­gung, ein Unikat. Trotz­dem wird es kaum jemand inter­essieren, was da drin­ste­ht. Auss­er die, die es lesen müssen. Die drei Per­so­n­en, die mich an mein­er Vertei­di­gung aus­quetschen wer­den nach meinem let­zten Quäntchen Wis­sen, die wer­den diese Arbeit wohl haar­ge­nau lesen. Damit ihnen ja nichts zwis­chen den Zeilen ver­loren geht, was nicht wis­senschaftlich fundiert sein kön­nte.

Und deshalb tippe ich täglich weit­er, und lösche zwei Drit­tel davon wieder, damit nichts Doofes drin­ste­ht, was mir während der 60-minüti­gen Vertei­di­gung zum Ver­häng­nis wer­den kön­nte. Tip­pen, schreiben, schreiben, tip­pen, tip­pen, schreiben, löschen, löschen, löschen, löschen, schreiben, tip­pen, schreiben, löschen. Und weit­er geht’s! Immer weit­er schreiben!

Foto: Bar­bara Ine­ichen
ensuite, April 2009