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Schuld, für die andere bezahlen

Von Belin­da Meier — «Am Ende des Regens» von Andrew Bovell führt am Beispiel ein­er Fam­i­lien­tragödie vor Augen, wie schw­er­wiegend die Auswirkun­gen ein­er winzi­gen Hand­lung auf Umwelt und Mit­men­schen sein kön­nen. Unter der Regie von Elias Per­rig wird das Stück als Schweiz­er Erstauf­führung in den Vid­marhallen aufge­führt.

Unser Leben wird von unendlich vie­len Zufällen geprägt. Durch stete Inter­ak­tion mit der Umwelt wer­den wir bee­in­flusst, während­dem wir gle­ichzeit­ig auf die Umwelt ein­wirken. Nichts bleibt fol­gen­los. Mehr noch, oft­mals ist es eine einzige Hand­lung, die das Leben für immer drastisch verän­dert und – wie es «Am Ende des Regens» zeigt – sog­ar zum Tod führt.

Fam­i­lien­tragödie und Naturkatas­tro­phen Andrew Bovell fächert in «Am Ende des Regens» vier Gen­er­a­tio­nengeschicht­en auf. Mit Hil­fe von Zeit­fen­stern auf Ver­gan­gen­heit, Gegen­wart und Zukun­ft, welche dabei ganze 80 Jahre abdeck­en, zeigt er das Dra­ma der Fam­i­lie York in seinem ganzen bru­tal­en Aus­mass. Im Hin­ter­grund dieser Fam­i­lien­tragödie beschreibt Bovell die katas­trophalen Fol­gen unaufhör­lich­er Regen­fälle und schlägt damit die unmit­tel­bare Brücke zu den jüng­sten Naturkatas­tro­phen Aus­traliens. Seit Mitte Novem­ber ist «Am Ende des Regens» als Schweiz­er Erstauf­führung unter der Regie von Elias Per­rig in den Vid­marhallen des Stadtthe­aters Bern zu sehen.

Das Erbe der Vor­fahren Die min­i­mal­is­tisch ein­gerichtete Bühne zeigt einen lan­gen Holztisch, dahin­ter vier Türen und in deren Mitte ein gross­es Fen­ster (Bühne: Beate Fass­nacht). Geschickt wer­den sowohl Fen­ster als auch die ganze hin­tere Büh­nen­wand als Pro­jek­tions­fläche für Bilder und filmis­che Sequen­zen genutzt. Der Tisch ist Tre­ff­punkt aller Gen­er­a­tio­nen. Immer wieder set­zen sich die Fam­i­lien­mit­glieder der ver­schiede­nen Zeit­en an ihn, löf­feln Fis­chsuppe aus, unter­hal­ten sich über die Regen­fälle und lassen Redewen­dun­gen ein­fliessen wie etwa «Die Men­schen in Banglade­sch ertrinken». Wieder­hol­ung wird zum Stilmit­tel. Elias Per­rig gelingt es dabei sehr gut, mit solch schlicht gestreuten Akzen­ten zu verdeut­lichen, wie sich bes­timmte Muster über Gen­er­a­tio­nen fort­set­zen.

Fisch markiert Kli­maverän­derung Der Stück­be­ginn spielt im Jahre 2039. Der ca. 50-jährige Gabriel York, Sohn von Gabriel Law und Gabrielle York, bere­it­et sich auf das Tre­f­fen mit seinem Sohn Andrew vor, den er viele Jahre nicht gese­hen hat. Mitreis­send und ein­dringlich berichtet Ernst C. Sigrist in der Fig­ur des Gabriel York von seinem wun­der­samen Fund eines Fis­ches, der ihm vom Him­mel direkt vor die Füsse gefall­en sei. Fis­che gäbe es näm­lich so gut wie keine mehr und wenn, dann müsste man ein ganzes Jahres­ge­halt dafür bezahlen. Gabriel beschliesst, den Fisch seinem Sohn zum Essen zu servieren. Vor dem Tre­f­fen fol­gen nun ver­schiedene Zeit­sprünge in die Ver­gan­gen­heit, die die ganze Fam­i­lien­tragödie von hin­ten her aufrol­len.

Gabriel und Gabrielle Wir sehen Gabriel Law (Sebas­t­ian Edt­bauer) als jun­gen Mann, der von sein­er alko­ho­lab­hängi­gen Mut­ter (Sabine Mar­tin) wis­sen will, weshalb sein Vater vor 21 Jahren von zuhause wegge­gan­gen sei. Weil ihm die Mut­ter keine Gründe für den Weg­gang Hen­ry Laws nen­nen will, beschliesst Gabriel kurz­er­hand, den Spuren seines Vaters, die nach Aus­tralien führen, zu fol­gen. Dort begeg­net er Gabrielle York (Mona Kloos), ein­er durch grosse Schick­salss­chläge geze­ich­neten jun­gen Frau. Während ihre Mut­ter im Meer ertrank und ihr Vater Selb­st­mord beg­ing, bleibt zunächst unklar, was mit ihrem tödlich verunglück­ten Brud­er Glenn geschah. Gabriel und Gabrielle ver­lieben sich und set­zen Gabriels Reise gemein­sam fort. Sebas­t­ian Edt­bauer und Mona Kloos geben ihren von Tod und Ein­samkeit umgebe­nen Fig­uren, die trotz grossen Rückschlä­gen am Quäntchen Glück fes­thal­ten, eine per­fek­te Gestalt. Die Fig­ur der Beth Law, dieser geknick­ten Frau, verkör­pert Sabine Mar­tin eben­falls mit grossem Feinge­fühl.

Sprung in andere Zeit­en Immer wieder wer­den diese Szenen mit Rück- und Vor­blenden durch­brochen. Man sieht Gabriels Eltern Beth (Mar­i­anne Ham­re) und Hen­ry Law (Ste­fano Wenk), die in den 1950er Jahren im reg­ner­ischen Lon­don leben. Ein weit­eres Zeit­fen­ster gibt zudem Ein­blick in Gabrielles Leben, das nach der Begeg­nung mit Gabriel eine tragis­che Wen­dung nimmt. Wie Puz­zle-Teile fügen sich diese Szenen zusam­men und lösen das Ver­brechen schliesslich auf, das Hen­ry Law anhaftet. Den Sprung in andere Zeit­en, beim Film um einiges leichter zu prak­tizieren, markiert Elias Per­rig sub­til mit dem geziel­ten Ein­satz von Licht. Die Fig­uren Beth und Gabrielle, die sowohl im jun­gen als auch im reifer­en Alter gezeigt wer­den, tra­gen dabei zur besseren Wieder­erken­nung jew­eils dieselbe Klei­dung.

Weit­erg­ere­ichte Schuld Wieder im Jahr 2039 zurück, heisst Gabriel York seinen Sohn Andrew (Diego Valsec­chi) in sein­er Woh­nung willkom­men. Es gibt Fisch zu essen, ein Gericht, das Andrew nur noch vom Hören­sagen ken­nt. Danach über­re­icht Gabriel seinem Sohn eine Kiste mit famil­iären Erin­nerungsstück­en, die selb­st ihm bedeu­tungs­los sind. Diese Kiste ist es let­ztlich, die deut­lich macht, dass alles irgend­wo seinen Ursprung hat. Selb­st Gabriel York und Andrew sind Fol­gen dieses Ursprungs. In «Am Ende des Regens» heisst dieser Ursprung Schuld – jene Schuld, die Hen­ry Law in den 1950er Jahren auf sich lud und damit alle Nachkom­men auf tragis­che Weise beein­trächtigte, ja, dafür bezahlen liess. «Am Ende des Regens», ein dicht­es und sehr emo­tionales Stück, das nicht ver­passt wer­den darf!

Foto: Anette Boutel­li­er
ensuite, Dezem­ber 2011