Von Hannes Liechti — In der Serie «Musik für …» wird jeweils eine Persönlichkeit aus dem Berner Kulturleben mit einer ausgewählten Playlist konfrontiert. Diesen Monat trifft es das Berner Stadtoriginal M., genannt Schwäbi. Thema ist, anlässlich der Jubiläumsausgabe des ensuite, die Zahl 100.
Er sieht etwas verschroben aus: grosse Brille, Stirnglatze, krauses Haar. Im Winter trägt er schwarze T‑Shirts und im Sommer weisse, alle mindestens in XXL-Grösse. Es gibt in Bern wahrscheinlich keinen bekannteren Konzertbesucher: Überall, egal ob Eröffnung eines Einkaufszentrums, Technoparty oder Jazzkonzert, tanzt Schwäbi völlig unbeirrt in stoischer Ruhe. Längst ist er zu einer Art Gütesiegel geworden, denn da, wo er anzutreffen ist, läuft gute Musik.
The Rolling Stones
«100 Years Ago» ab dem Album «Goat’s Head Soup» (Virgin Records, 1973)
In den 60er-Jahren war ich auf der Seite der Beatles. Gerade die ruhigeren Songs der Stones wie «100 Years» haben mich aber auch angesprochen. Mittlerweile ist der Song selbst ja schon fast 100 Jahre alt! (lacht)
Wenn Mick Jagger 1973 «Can›t you see the furrows in my forehead?» singt, klingt das heute wie ein schlechter Witz. Sollten die Rolling Stones nicht schon längst abtreten?
Nein, finde ich nicht. Obwohl ich ihre Konzerte nicht besuche, die sind mir viel zu gross. Selber habe ich 1972 mit meiner Band Schluss gemacht. Ich habe gelegentlich gesagt, ich will nicht, dass so viele Sattelschlepper wegen mir um die Welt fahren müssen. (lacht)
Ein weiteres Zitat aus dem Song: «Don’t you think it’s sometimes wise not to grow up?»
Nicht unbedingt. Das Urbeispiel sind die Kinder: Sie freuen sich, wenn wir ihresgleichen werden, erwarten aber eine durchgehend erwachsenen Performance. Sonst sind sie enttäuscht und wenden sich ab. Dasselbe gilt für Jugendliche: Sie freuen sich, dass ich mit ihnen «zu Tanz» gehe, wollen aber nicht, dass ich mich genau wie sie verhalte. Also «Not to grow up» als «to be grown up».
ABBA
«Dancing Queen» ab dem Album «Arrival» (Polar, 1976)
Ich finde es total entspannend, auf einer Tanzfläche einen solchen Song zu hören. Diese Rhythmen sind im Vergleich zu einem Jazzkonzert natürlich sehr einfach. Das ist völlig relaxed.
Dieses Stück hat 100 Beats per Minute. Was ist die ideale bpm-Rate für den «Tan Zen», wie du deinen Tanz nennst?
Das kann ich gar nicht sagen. Ich gelte ja als einer, der sehr langsam ist. Man kann auch zu einem schnellen Rhythmus langsam sein. Die Jugendlichen sagen manchmal zu mir: «Wir sind im 21. Jahrhundert, du musst schneller tanzen!» Sie kommen dann aber bald zur Einsicht, dass mit dem nichts zu machen ist, «den kann man nicht beschleunigen». Grundsätzlich vermitteln die 100 bpm aber einen positiven Eindruck der Zahl. Es gibt auch negative: So z.B. die Suche nach der 100%igen Sicherheit, die es nicht gibt. Und auch Autofahren mit 100 km/h ist mir zu schnell.
Bist Du der Berner Tanz-König?
(lacht) Ich habe auf alle Fälle kein Königsbewusstsein!
Kutti MC
«König für immer» ab dem Album «Sunne» (Two Gentlemen, 2010)
In diesem Song setzt Kutti bestimmten Menschen, die sich selber nicht als König vermuten, eine Krone auf. Der König ist hier nicht negativ aufzufassen, es geht nicht um einen regierenden. Vielmehr geht es um einen, der wie am Dreikönigstag eine Krone aufgesetzt bekommt. «Tan Zen» ist der Zahn, der plötzlich auf den König beisst, und ihn aus dem Teig befreit.
Geht es in diesem Lied um Dich? Der Tänzer des Videos trägt wie Du weisse T‑Shirts in Übergrösse.
Kutti MC hat tatsächlich einmal gesagt, es sei eine Hommage an Schwäbi. Bei Konzerten zieht er mich manchmal auf die Bühne und fügt dann Kommentare wie: «Wenn das nicht Hip-Hop ist, was der macht!», hinzu.
Kutti MC rappt: «Ds Glück wird hüt wohl andersch gsuecht: Der modern Mönsch ligt im Bett erschöpft näbem Computer und schlaft.» Wie suchst du dein Glück?
Nicht zuerst, aber auch nicht zuletzt im Computer. Facebook ist, was wir daraus machen. Auf dieser Plattform hatte ich bisher Glück. Ich denke da zum Beispiel an die vielen witzigen und intelligenten Kommentare der «Fans», aus welchen sich oft spannende Diskussionen entwickeln. Beim Peak-Schwäbi zählte meine Fanseite gut 2600 Leute.
Franz Schubert
«I. Allegro» aus Trio für Klavier, Violine und Violoncello Nr. 2 in Es-Dur, op. 100 (1827)
Leider gibt es nur selten die Gelegenheit, zu klassischer Musik zu tanzen. «Tan Zen» ist mein Ohr. Setze ich mich in einem Konzert, bin ich am Ende nicht gut drauf. Bei klassischer Musik muss der Tanz, wie «Tan Zen» es auch ist, natürlich völlig geräuschlos sein. Gerade klassische Openair-Konzerte lasse ich mir nicht entgehen, da muss man auch nicht so still sein.
Hast du einen Lieblingsstil? Oder etwas, was gar nicht geht?
Wahrscheinlich gibt es beides nicht. Christian Krebs vom Verein bee-flat hat einmal gesagt: «Niemand ist so spartenübergreifend wie Du.» Von Bach bis Ländler alles – eine wohltuende Herausforderung.
Nena
«99 Luftballons» ab dem Album «Nena» (CBS, 1983)
Dieses Intro: gefällt mir! Mir kommen da fast ein bisschen die Tränen. Obwohl das nicht unbedingt meine Musik ist. Aber dieses Kommerzielle, dieser Synthesizer-Bass, tut gut. Ich stehe dazu, dass der Mensch auch seinen Schatten hat, wie C. G. Jung es formuliert. Nena habe ich einmal live gesehen. Sie hat dann den Schwäbi entdeckt, kam rüber, schaute mir zu und hatte ihre Freude. Aber ich bin kein Fan von ihr. Spuren von Kitsch hindern mich daran. Wenn die Band einsetzt, nehme ich die Kopfhörer ab.
99 Luftballons sind ja nicht ganz 100. Was ist deiner Meinung nach denn ganz 100?
Das Konzert von Nadja Stoller bei bee-flat vom vergangenen Januar. Was sie mit wenigen Mitteln an Nuancierungen und Akzentuierungen ihrer Stimme und den Instrumenten entlockte, war fantastisch. Nicht zuletzt der swingende Groove, den sie aus der Keytar – ein kleiner Synthesizer, den man sich wie eine Gitarre über die Schultern hängt – herausholte, hat mich beeindruckt.
Foto: zVg.
ensuite, April 2011