Von Walter Rohrbach — Aus gegebenem Anlass: Momentan läuft in den Kinos der Dokumentarfilm «Schweizer Geist», und so begebe ich mich auf die Spuren der Schweiz und versuche in Schweizers Seele zu blicken.
Öfters Frage ich mich: Was sind wir? Ich meine «wir Schweizer». Existiert überhaupt so etwas? Gibt es ein angeborenes oder antrainiertes Gen in Kreuzform, welches nur uns Schweizern eigen ist? Komisch finde ich den Begriff des «Schweizerseins» schon. Ich bin es, ja. Ich bin Besitzer von einem dieser aussergewöhnlich roten Pässe, die sich fast provokativ von den anderen zu unterscheiden versuchen. So Rot, so kräftig Rot, so exklusiv Rot … Ein Sonderfall.
Dieses Wort: S.O.N.D.E.R.F.A.L.L. Mein Lehrer an der Grundschule, ich würde ihn als einen der letzten Vertreter der «alten Schule» bezeichnen, pflegte diesen Aspekt besonders in der Geschichtsstunde zu betonen. Da erzählte er uns Winzlingen von diesem unglaublichen Wohlstand, dieser einzigartigen Vielfalt und der besonderen Schönheit unseres Landes. Das waren schöne Geschichten für die Schweiz und eher unschöne Geschichten über den Rest der Welt. Und in der Tat wurden wir von den Weltkriegen und von Konflikten in den letzten 150 Jahren verschont. Wie viel Verdienst dabei bei uns liegt, ist aber schwierig abzuschätzen. Allerdings haben wir sicherlich auch nicht riesige Fehler gemacht – grosse Helden sind und waren wir aber auch nicht. Anders tönte es einige Jahre später in einem der trostlosen Hörsäle der Universität. Ein kleiner, schmächtiger Professor rief in den heiligen Hallen der Erkenntnis in den noch frühen Morgenstunden ins studentische Publikum: «Die Schweiz ist kein Sonderfall». Offenbar hielt er es für notwendig, diese Aussage zu machen. Zu oft wird die Schweiz zum Sonderfall erklärt, auf die Eigen- und Besonderheiten hingewiesen. Auch von offizieller Seite werden Broschüren und Informationen herausgegeben, welche unsere Stärken preisen: Die Schweizer sind Weltspitze im Recycling … Die Schweiz und der öffentliche Verkehr … Die Schweiz und die verschiedenen Kulturen. Dies ist aber nichts Ungewöhnliches. Jedes Land verweist doch auf seine Stärken. Als ich letztes Jahr im Reichstag in Berlin war wurden dort Statistikhandbücher über Deutschland verteilt, welche die Besonderheiten des Landes ebenso prominent präsentierten. Jedes Land schaut mit einem gewissem Stolz auf seine Eigenheiten. Die Schweizer auf das Matterhorn, die Iraner auf Persepolis, die Griechen auf die Akropolis.
Spannend finde ich, dass ich im Ausland häufig als «Schweizer» vorgestellt, und damit mit gewissen klischierten Eigenschaften und Bildern in Verbindung gebracht werde. Und ich beobachte sie auch, diese Klischees: diese Schweizer Bundesbähnlipünktlichkeit. Ansätze von Korrektheits- und von Sauberkeitsfimmel-Befallenen (L)Eidgenossen, die sich an Samstagen an den Autowaschstrassen zusammenfinden, lassen sich durchaus auch in der freien Wildbahn beobachten. Ebenso erkennbar ist eine ernstzunehmende Freundlichkeit auf dem Lande, und etwas sehr Beflissenes und Strukturiertes im Arbeitsalltag. In dieser Kombination hat das schon etwas sehr Schweizerisches und Eigenes.
Für mich persönlich wäre es ebenso durchaus praktisch zu Wissen, was so schweizerisch an mir ist. Vielleicht kann ich dadurch besser erklären was ich bin, als Teil dieses helvetischen Kollektivs. Wieso ich in gewissen Situationen einen mentalen Igel bilde, mich abschotte, und eine uneinnehmbare Festung gegen Alles von aussen aufbaue, und, wenn, dann doch eher bilateral Kontakte aufbaue. Wieso ich mich nicht gerne in grösseren Gruppen aufhalte und sehr auf Eigenständigkeit bedacht bin. Vielleicht kann dadurch auch meine Affinität zu Toblerone-Mousse besser erklärt werden. Und es mag auch einige Gründe geben, wieso die Emmentaler nicht gerade für ihren offenen und südländischen Hüftschwung bekannt sind. Sind es die engen Täler, ist es das Klima, oder gar ein unterschwellig hervortretender Nationalrythmus, der unseren Hüftschwung (Ausnahmen ausgeschlossen; ich will ja niemanden Beleidigen) einschränkt?
Etwas kurios dagegen erscheint die Bezeichnung der Schweiz als Kollektiv, als eine Gemeinschaft. Sie besteht doch aus vielen Individuen mit ganz unterschiedlichen Lebensweisen und unterschiedlichen Werten. Hinzu kommt, dass es im Gegensatz zu den Staatsgründungen in den Nachbarländern in der Schweiz kein Staatsvolk von gleicher Ethnie, Sprache, Religion oder Kultur gab. Es gibt neben den Deutschschweizern die «Wälsche», «d Rätoromane» und «d Tessiner» – Berndeutsch ausgedrückt. Hier sei auf den Begriff der «Willensnation Schweiz» verwiesen, die im Gegensatz zu den Kulturnationen anderer Länder die Schweiz als multikulturellen Staat definiert. Kaum ein Land ist aus derart vielen verschiedenen Kulturen und Regionen zusammengefügt worden wie das unsere. Was ist uns trotzdem gemeinsam? Teilen wir trotz der Unterschiede gewisse Eigenschaften? Ist es der Wille zur Nation? Der Wille sich trotz der Unterschiede als Schweizer zu fühlen? Der Wille, sich als Ganzes zu sehen? Der Wille, finanzielle Unterschiede zwischen den Kantonen solidarisch auszugleichen? Stichwort Finanzausgleich: Klar scheint dafür das Argument zu sprechen, dass der Wohlstand, die Sicherheit, das gesamte Konstrukt Schweiz unser unmittelbares Handeln und unsere Möglichkeiten beeinflussen, uns untereinander annähern lassen. Treffend ist in diesem Zusammenhang die im Rahmen der Weltausstellung 1992 in Sevilla im Schweizer Pavillon getroffene Aussage von Ben Vautier «La Suisse n’existe pas». Eine Schweiz als Nation und homogener Raum mit einer einheitlichen Leitkultur existiert nicht. Hingegen definiert sich unsere Nation als Zugehörigkeitsgefühl: «Je pense, donc je suisse».
Unterschiede sind ein wichtiges Merkmal der Schweiz. Auf diese wird häufig verwiesen, und viele sind stolz darauf, dass der «typische Schweizer» sich nicht eindeutig charakterisieren und typisieren lässt. Allerdings zeichnet sich die Schweiz nicht gerade durch eine enorm grosse Offenheit gegenüber dem dem «Anderen» und dem «Neuen» aus. Zwar könnte man meinen, dass wir durch die bestehende multikulturelle Vielfalt offener und gewohnter sind im Umgang mit dem «Fremden». Nun, an die Westschweiz haben wir uns mittlerweile gewöhnt, ebenso mit dem Tessin fühlt man sich als Deutschschweizer verbunden und gerät leicht ins Schwärmen. Trotzdem tun wir uns aber schwer mit neuen Bevölkerungsgruppen, ob begründet oder nicht möchte ich gar nicht bewerten. So sahen sich die Einwanderer aus Italien zuerst einer grossen Ablehnung gegenüber, welche sich erst allmählich abbaute. Dieses Muster scheint sich bei anderen Bevölkerungsgruppen zu wiederholen.
Der Begriff der multikulturellen Gesellschaft ist aus meiner Sicht sowieso zu relativieren, gerade auch in Bezug auf die Sprachregionen. Mal ehrlich, wie oft nehmen wir die Westschweiz wahr, und wie oft findet tatsächlich ein kultureller Austausch zwischen den Sprachregionen statt? Untersuchungen deuten denn auch eher auf ein stilles Nebeneinander als auf ein aktives Miteinander hin. Die Kantone und die Regionen sind immer noch stark auf ihre Eigenheiten bedacht. Bereits Napoleon Bonaparte musste erkennen, dass die Schweiz aufgrund ihrer Unterschiede nicht einfach zu zentralisieren und zu vereinheitlichen war, und brach dies mit dem treffenden Satz «La suisse est fédéraliste – ou elle n’est pas» zum Ausdruck.
Wer sich weiter mit der Schweiz und ihren Bewohnern auseinandersetzen möchte, den verweise ich auf zwei aktuelle Dokumentarfilme. Diese enorm unterschiedlichen Darstellungen bieten interessante und ungewohnte Einblicke: Der Film von Severin Frei mit dem Titel «Schweizer Geist» wird momentan im Kino gezeigt. Darin wird vorwiegend eine heile Schweiz mit verschiedenen Porträts von Personen oberhalb der Nebelgrenze dargestellt. Dies mag man kritisieren, es hat andererseits aber auch etwas Erfrischendes. Das Ziel der Dokumentation war es denn auch nicht, einen kritischen Blick auf die Schweiz zu werfen, sondern vielmehr die Schönheit und die Vielfalt unseres Landes aufzuzeigen. Der Film ist durchaus auch Realität … wenn auch nicht die ganze, sondern nur die schöne. Diese Schweiz entdecke auch ich, wenn ich an schönen Sommertagen meine Wanderschuhe überziehe, und in meinen Sportsocken samt Trekkingrucksack ins ländliche und bergische entschwinde. Ganz anders die Satiredokumentation der beiden Bernern Baumann und Pfiffner mit dem pfiffigen Titel «Image Problem», die bitterböse Einblicke aufzeigt. Als Betrachter schämt man sich ein bisschen für die Äusserungen der porträtierten Prachtexemplare Schweizer Helvetik, die in ihren geputzten Schrebergärten Aussagen fremdenfeindlichen Inhalts von sich geben. Auch dieser Aspekt existiert in der Schweiz – wie stark ist schwierig abzuschätzen.
Eines ist sicherlich entscheidend: Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Land in der öffentlichen Debatte und in der Kultur, das Nachdenken und das Reflektieren über die Schweiz, das Kritisieren, das Schämen und das Kommentieren ist enorm wichtig für eine gesunde Gesellschaft. Denn, ob man will oder nicht, das Konstrukt Schweiz beeinflusst unser Leben, unsere Lebensgestaltung, unsere Lebensperspektiven und unsere Lebensqualität entscheidend. «Wir müssen unseren Teil der Verantwortung, für das was geschieht und das was unterbleibt, aus der öffentlichen Hand in die eigenen Hände zurücknehmen», formulierte einst der Deutsche Schriftsteller Erich Kästner.
Und ja, bevor ich es vergesse: «In der Schweiz ist übrigens alles schöner und besser …» (Adolf Muschg). Richtig Herr Muschg. Amen!
Dokumentarfilm «Schweizer Geist»
Regisseur: Severin Frei
Dokumentarfilm «Image Problem»
Simon Baumann und Andreas Pfiffner
www.imageproblemthemovie.com
DVD erhältlich (siehe Webseite)
Foto: zVg.
ensuite, Mai 2013