Von Konrad Pauili — Mit seinem nur wenig älteren Bruder ging der kleine Junge zum Bäcker. In der Zeit war es Mode und für Kinder ein jederzeit höchst willkommenes Ereignis, dass im Lebensmittelgeschäft ein Rädchen Wurst, ein Bonbon oder sonst was Leckeres den Kleinen in die Hand und gleichsam in den allemal aufnahmegierigen Mund gedrückt beziehungsweise gesteckt wurde. Da man im selben Haus wohnte wie der Bäcker, der unten Geschäft und Backstube hatte, kannten sich die Familien gut. Gleichwohl, aus Erziehung und wohl Veranlagung, trugen die beiden kleinen Jungen den Erwachsenen gegenüber, besonders jenen in ländlicher Gegend nicht selten bärbeissigen, eine gewisse, mit Neugierde vermischte Scheu mit sich herum; den Sinn der zwar humorvoll und ironisch gemeinten, oftmals aber auch spitzen Bemerkungen der Erwachsenen galt es erst zu verstehen und in seiner Wirkung abzuschätzen. Einmal schien sich der Bäcker über Gebühr, jedenfalls unerträglich lang mit dem Angebot und der Überreichung der Süssigkeit Zeit zu lassen, ja, es mochte sein, dass er es diesmal überhaupt vergessen hatte, was für die Kleinen eine Ungeheuerlichkeit gewesen wäre und ihnen sozusagen den Tag verdorben hätte. Also fasste sich der Jüngere ein Herz, stupste seinen Bruder in die Seite, flüsterte ihm wohl ein wenig zu laut ins Ohr, er solle sich doch auch ein Herz fassen und den Bäcker, bevor man den Laden verlassen hatte und alles verloren gewesen wäre, an die beinahe schon vollzogene Unterlassung erinnern. Nun hatte der Kleine den Bäcker in der Tat falsch eingeschätzt, griff der Mann doch nach einer der süssesten Süssigkeiten, gab sie dem Bruder, bemerkte dazu, der Kleine müsse diesmal mit ohne etwas vorliebnehmen, habe er doch den Mut nicht aufgebracht, seinen Wunsch persönlich vorzutragen.
Jahrzehnte später – der Bäcker hatte inzwischen auch aus gesundheitlichen Gründen das Geschäft aufgegeben, hatte seine Neigung für die Kunst, insbesondere für das Aquarellieren entdeckt und sich in Kursen ausbilden lassen – kam es zur ersten grösseren Ausstellung des schon älteren Mannes und noch ziemlich frisch gebackenen Künstlers. Der ehemalige kleine Junge, der nun in Kunstkreisen ein geschätzter, also zum Abfassen von Texten begehrter Autor geworden war, war von der Zeitung dazu ausersehen, über die Bilder zu schreiben. Da ihm die Aquarelle gefielen, drängte ihn die Bereitschaft, sich auf das Werk einzulassen. Als der Bericht mit Bild erschienen war, sinnierte der Künstler am Namen des Verfassers herum, bis es ihm gelang, den Faden zum kleinen schüchternen Jungen hinzuspannen. Er schrieb ihm einen Dankesbrief – und fragte, ob er jener sei, an den er sich zu erinnern glaube. Der Empfänger bestätigte die Vermutung. So lud der Künstler den Verfasser ein, und bei einer Flasche Wein und allerhand Gebäck erneuerte dieser seine nun zu spät vorgebrachte Drohung, leider habe er sich angesichts des packenden Werks nicht dazu entschliessen können, späte Rache zu nehmen für seinerzeit vorenthaltene Süssigkeiten. Der alte Künstler lachte sein herzlich-verschmitztes Lachen, das den Jüngeren einen Atemzug lang in die Bäckerei zurückversetzte.
ensuite, Januar 2010