Von Konrad Pauli — Tante Marie, nie sah man sie lachen, gar lächeln; es war, als trüge sie immerfort eine Sorgenlast mit sich, zeitlebens. Unverheiratet, viele Jahre Magd bei einem Bauern, wo sie’s, den Umständen entsprechend, gut hatte und zur Dankbarkeit verknurrt war. Kam sie, was selten geschah, zu Besuch, herrschte vorwiegend betretenes Schweigen, wenngleich der Junge keine Ahnung hatte, was es denn alles zu verschweigen gab. Die Frage der Tante, ob er, der Junge, einen Beruf zu erlernen beabsichtige, beantwortete er mit einem erstaunten Ja. Vor dem Abschied überliess sie ihm ein Häufchen Kleingeld – er müsse auch etwas haben. Einmal, an einem sonnigen Frühlingssonntag, ging man Tante Marie besuchen – in die Anstalt. Die Zeit war noch nicht reif, die Anstalt Psychiatrische Klinik zu nennen. Gross, einschüchternd erhaben stand das Gebäude vor ihm, kaum sprach man angesichts der bedrük-kenden Umstände auch nur ein Wort. Auch die Tante schwieg, stierte blicklos vor sich hin, irgendwohin in eine traurige Vergangenheit und freudlose Gegenwart. Fragen wurden keine gestellt, aus Angst vor Echolosigkeit oder falschen Antworten. Die Besuchsstunde dehnte sich in einen langen Nachmittag. Im spaltweit offenen Fenster schaukelten unhörbar die Ahornblätter, zuweilen zwitscherte ein Vogel. Alles lief darauf hinaus, bald zu Besuch gewesen zu sein und unverändert schweigsam, ja bedrückt von der Ausweglosigkeit des Schicksals, die Heimreise anzutreten. Tante Marie konnte nicht geholfen werden. Keiner konnte sie aufheitern, ihr die Last abnehmen. Später arbeitete sie in einer Fabrik. Wohnte bedürfnislos in einer Dachkammer. Freudlos. Nagte ausweglos an Vergangenem. Hinzu kam der Geiz. Sie versagte sich alles. Mit dem Fahrrad fuhr sie die paar Kilometer in die Fabrik und abends nach Hause. Bis man sie fand, halb unter’m Fahrrad leblos nebenaus im Gras. Die Schnürsenkel hatte sie sich gespart; mit mehrfach geknüpftem Draht hatte sie sich die letzte Zeit ihre Schuhe gebunden.
ensuite, Februar 2009